Rede von Annette Kuhn


Annette Kuhn während ihrer Rede am 9. April 2006 in Bonn © Heike Janes


Dokumentation der Rede von Prof. Dr. Annette Kuhn, die sie während der Gedenktafeleinweihung für Johanna Elberskirchen am 9. April 2006 in der Bonner Sternstraße 37 gehalten hat:


Liebe Freundinnen, liebe Freunde,


Für die heutige Einweihung der Gedenktafel für Johanna Elberskirchen haben Sie mir eine besondere Frage gestellt. Sie haben mich gefragt, wie ich Johanna Elberskirchen in die Frauengeschichtsforschung einreihe. Die erste und wichtigste Antwort auf diese Frage haben Sie, die Veranstalterin dieser Feier, selbst gegeben. Sie haben es uns ermöglicht, an Johanna Elberskirchen zu denken, ihr einen Platz in unserer historischen Erinnerung zu geben. Jedes Mal wenn wir hier auf der Sternstrasse an ihrem Haus Nr. 37 vorbeigehen, können wir an sie denken: hier wohnte Johanna Elberskirchen. Hier wurde sie geboren. Sie lebte von 1864 bis 1943. Sie war eine Frauenrechtlerin und Sozialdemokratin. Weiter heißt es auf dieser Plakette: sie war eine Aktivistin für die Rechte von Frauen und Homosexuellen“.


An dieser Gedenktafel werden wir hier in Bonn immer wieder vorbeigehen – vielleicht mit einer Freundin oder einem Freund, mit Besuch aus einer anderen Stadt, aus einem anderen Land. Fragen entstehen: „Kennt Ihr Johanna Elberskirchen?“ „Wisst Ihr, was sie alles getan hat?“ „Habt Ihr auch eine Gedenktafel für die Frauen, die sich für die Frauenrechte und die Rechte von Homosexuellen eingesetzt haben?“


Aber vielleicht gehen Sie allein an dieser Gedenktafel vorbei und lassen noch mehr Fragen zu: Johanna Elberskirchen ist nicht allein. In der historischen Erinnerung mögen die Namen von noch weiteren Bonner Frauen auftauchen: Marie Kahle, nach der heute nach langem Ringen eine Straße in Bonn an der Museumsmeile genannt wurde. Oder Klara Marie Fassbinder, liebevoll, aber vielleicht etwas verniedlichend das „Friedensklärchen“ genannt. Hier könnte ich noch sehr viele Namen bedeutender Bonnerinnen aufzählen. Aber damit bin ich auch auf den Kern der Frage gestoßen: Wie ordnet sich Johanna Elberskirchen in die Frauengeschichtsforschung ein?


Durch diese Veranstaltung und durch die Presseerklärung haben Sie die Grundlage für die Beantwortung dieser Frage geschaffen. Vor vielen Jahren habe ich zusammen mit Studentinnen und Studenten der Bonner Universität über Frauen in Bonn geforscht: Um mich über das inzwischen Erreichte zu vergewissern, habe ich zwei Veröffentlichungen aus dieser Zeit nochmals in die Hand genommen: Frauenleben im NS – Alltag in Bonn aus dem Jahre 1994 und 100 Jahre Frauenstudium in Bonn aus dem Jahre 1996 – in beiden Veröffentlichungen kommt der Name Johanna Elberskirchen nicht vor. Sie war uns damals, als wir zur Frauengeschichte forschten, mehr über die Frauenbewegung in Deutschland, mehr über das Frauenstudium, mehr über die Beziehungen der Geschlechter untereinander und über die Beziehungen von Frauen zueinander wissen wollten, unbekannt. Das ist heute nach etwas mehr als 10 Jahren anders.


Christiane Leidinger hat Johanna Elberskirchen für uns charakterisiert: eine engagierte Sozialdemokratin, eine Brückenfigur „zwischen Homosexuellenbewegung- und Frauenbewegung“, eine der „außergewöhnlichsten Frauen deutschsprachiger Lesbengeschichte“. Darüber hinaus hat sie uns mit vielen Daten aus der Lebensgeschichte von Johanna Elberskirchen vertraut gemacht, die viele Assoziationen hervorrufen, die zu Vergleichen mit anderen Frauenleben herausfordern und zu ganz neuen Fragestellungen nach ihrem sozialen Umfeld, nach ihren politischen Visionen, nach der Verallgemeinerungsfähigkeit ihres Lebensentwurfes und ihrer theoretischen Vorstellungen führen: war sie wirklich so exzeptionell, nur eine der wenigen Frauen, die entschlossen in den unterschiedlichsten Zusammenhängen – u. a. in der Ethischen Gesellschaft, im Wissenschaftlich-humanitären Komitee, in der Weltliga für Sexualreform - eine Einzelkämpferin, die sich mit ihrer Lebensgefährtin Hildegard Moniac aus dem „eigentlichen“ politischen Leben immer wieder zurückzog?


Hier bleiben viele Fragen offen. Die bisherige Forschung, die diese Gedenktafel ermöglicht hat, bietet aus meiner Sicht den entscheidenden Ausgangspunkt um Johanna Elberskirchen einen festen Platz in unserer historischen Erinnerung zu sichern und die bleibende Bedeutung ihres Lebens und ihres Denkens in ihrer ganzen Fülle und Kostbarkeit in einer allgemeinen Sicht unserer Geschichte festzuhalten. Das ist die Aufgabe der Frauengeschichtsforschung. Hier gibt es allerdings noch viel zu tun. Denn diese Einordnung der Johanna Elberskirchen in die Frauengeschichtsforschung setzt die Bereitschaft voraus, unsere allgemeine Geschichte neu aus der Sicht der Frauen- und Geschlechtergeschichte zu betrachten.


Seit vielen Jahren erschließt sich uns in der Frauengeschichtsforschung diese umfassendere Sicht unserer Geschichte. Dem Leben und Werk der Johanna Elberskirchen kommt in dieser Perspektive eine besondere Bedeutung zu. Bedenken wir nur kurz zum Abschluss noch einmal die Inhalte der politischen Arbeit von Johanna Elberskirchen: Frauenwahlrecht, Frauenbildung, Kampf gegen Gewalt auf allen Ebenen der Geschlechterbeziehungen. Wir müssen aber den Mut aufbringen, ihre Texte in ihrer erfrischenden, in ihrer erschreckenden Radikalität auf uns wirken zu lassen. Dann werden wir auch unsere Fragen neu stellen.


„Die Frage des Weibes, die Frauenfrage – was ist sie prinzipiell? Wogegen richtet sich im letzten Grunde der Kampf des Weibes, die Frauenbewegung?“ Mit diesen Worten formuliert sie ihre Frage an die Frauen der Frauenbewegung in ihrer Schrift: „Sozialdemokratie und sexuelle Anarchie. Beginnende Selbstzersetzung der Sozialdemokratie?“ aus dem Jahr 1897. Sie gibt uns klare Antworten. „Gegen nichts anders als gegen sexuelle Knechtung, gegen sexuellen Kapitalismus, gegen sexuelle Anarchie“ - ihre Antworten sind in der Regel kraftvoller, radikaler, zutreffender als die nachträglichen Versuche, die politische Utopie von Johanna Elberskirchen in enge Bahnen zu lenken. Wir müssen es zulassen, dass sie mit ihrer eigenen Stimme spricht.


Ich möchte Johanna Elberskirchen das letzte Wort geben. Dann wird sie auch ihren Platz in der Frauengeschichtsforschung – und darüber hinaus in unser historischen Erinnerung, in unserem politischen Bewusstwerden und in einer erweiterten Sicht unserer gemeinsamen Geschichte einnehmen.


„Die Führerinnen der Frauenbewegung bürgerlicher, wie sozialdemokratischer Farbe sind sich darüber noch nicht klar – aber werden sie sich klar werden, und dann werden sie nicht mehr gegen einander, sondern miteinander kämpfen, kämpfen gegen den gemeinsamen Feind: sexuellen Kapitalismus, sexuelle Anarchie, für das gemeinsame Ziel: Emanzipation von sexueller Knechtschaft – gesundes Geschlechtsleben, freie Liebe für Weib und Mann!“




© Annette Kuhn (Bonn 2006)