Einführung zum Portalstart im November 2005:

"Lesbian desire is everywhere,
even as it may be nowhere"
(Martha Vicinus)
1




"Jeder sozialen Gruppe muß ihre eigene Geschichte zugänglich sein. Das Wissen über unsere Vergangenheit gibt uns kulturelle Wurzeln und ein Erbe von Vorbildern und Erfahrungen, von denen wir lernen und denen wir nacheifern oder denen nicht zu folgen wir uns entscheiden können. Uns lesbischen Frauen ist grundsätzlich alles Wissen über unsere Vergangenheit vorenthalten worden. Dies ist vorsätzlich geschehen, denn es hält uns unsichtbar, isoliert und machtlos. (...) Die Unterdrückung der lesbischen Lebensform erstreckt sich über die Kontrolle zeitgenössischer Vorstellungen und Informationen hinaus auch auf die Kontrolle historischen Wissens."2


Derzeit suggerieren gerade großstädtische lesbische, lesbisch-schwule, queere und transgender subkulturelle Szenen vorschnell Sichtbarkeit und Selbstverständlichkeit lesbischer Lebensweisen. Aber auch heute noch leben viele Lesben versteckt, sind unsichtbar und isoliert.
Gleichzeitig wird mit dieser vermeintlichen Sichtbarkeit gesellschaftliches Wissen um 'die' Geschichte/n von Lesben und Transgender-Personen vorgespiegelt, das kaum vorhanden ist.


Nach wie vor sind 'die' Geschichte/n lesbischer Frauen lediglich lückenhaft rekonstruiert – nicht nur im deutschsprachigen Raum. Zudem sind im virtuellen Netz äußerst wenige Lesben aus der Geschichte präsent, woran auch der Aufbau verschiedener cyber-Lexika nichts geändert hat.


Lesbengeschichte ist "[U]nthinkable, silent, invisible" – so lautet ein mehr oder weniger brüchiges "critical cliché" über die "presence of lesbianism".3


Mit diesem online-Projekt wollen wir lesbische Frauen kritisch in 'die' Geschichte einschreiben, Lesben in 'der' Geschichte sichtbar machen – mit ihren individuellen Lebensgeschichten wie auch bezogen auf etwaige 'kollektive' Zusammenhänge frauenliebender Frauen.


Das online-Projekt Lesbengeschichte zielt auf historische und aktuelle Sichtbarkeit und versteht sich als Teil des Widerstands gegen Enthistorisierung lesbischer Existenzen und Aktivitäten.
Die De/Konstruktion von Geschichte steht für uns nach wie vor im Zeichen von Erinnerungskultur, historischem Lernen und für die Möglichkeit – nicht zwingende Notwendigkeit – historisch positiver Identifikation/en wie auch Abgrenzung/en.


Der Titel Lesbengeschichte mag manche verwundern: zum einen in Zeiten der Dekonstruktion der Identitätskategorie Lesbe und zum anderen, da die historische Verwendung eines erst in den 1970er Jahren sich entwickelnden, modernen Begriffs wie Lesbe umstritten ist. Es gibt berechtigte Befürchtungen, dass die Verwendung des Begriffs Identität/en stabilisiert, also festschreibt, was eine Lesbe 'ist' und geschichtliche Entwicklungen vereinfacht oder undifferenziert darstellt.


Wir denken allerdings nicht, dass die Nutzung des Begriffs Lesbe in gleichsam 'logischer' Konsequenz lesbische Identität voraussetzt, simple Kontinuitäten herstellt, historische Gebundenheiten und Dynamiken ausblendet, platt Modernes auf Historisches projiziert, unterschiedliche Konzepte von Frauenliebe negiert oder in anderer Form Geschichte nicht differenziert re-/konstruiert.4
Diese Problematiken halten wir für eine Frage des wissenschaftlichen Vorgehens sowie der Darstellung und nicht etwa der Begriffsverwendung an sich.
Wir nutzen das Label Lesbengeschichte als eine politische Klammer nicht-heterosexueller Erfahrungen und persönlicher, teils politischer Lebensweisen von Frauen (und Passing Women/Transgender) in der Geschichte. Dies erscheint uns nach wie vor geboten, u. a. da die Geschichtsrekonstruktion des mainstreams – oft auch feministische Historisierung – implizit oder explizit weiterhin unterstellt, alle Frauen in der Geschichte hätten heterosexuell gelebt.


Wir orientieren uns an der Theoretisierung des "lesbian-like", einer Bindestrichkonstruktion, die Lesben auch in der Geschichte sichtbar macht und gleichzeitig die Kategorie Lesbe in ihrer möglichen Festgefügtheit destabilisiert. Mit Instabilitäten soll gespielt und von ihnen gelernt werden. Mit lesbian-like wird die Aktivität und nicht die Identität betont, die Lebensweisen, nicht die Personen. Da lesbian-like sich nicht str/eng auf Sexualität bezieht, sondern auch Verhalten ("behavior), Zuneigung ("affection") und "singleness" als lesbian-like interpretierbar sind, kann Frauengeschichte mit dieser "Schocktherapie" in Perspektive und Erkenntnissen reformiert und Lesbengeschichte bereichert werden.5


Die selbstredend unvollständige Liste verschiedener (Selbst-/Fremd-)Bezeichnungen von Lesben im intro dieser website und die damit verbundenen Debatten illustrieren nur einen bislang re-/dekonstruierbaren Ausschnitt deutschsprachiger lesbian herstory.


Für den Start dieses (no-budget!) online-Projekts Lesbengeschichte legen wir historisch den Schwerpunkt der biographischen Skizzen lesbischer Frauen und historischer Informationen auf das Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts, geographisch auf Deutschland. Perspektivisch kann und soll die website erweitert werden.


Besonders möchten wir drei Frauen hervorheben, die sehr früh lesbenpolitisch engagiert waren: Johanna Elberskirchen (1864-1943), Theo Anna Sprüngli alias Anna Th. Rüling (1880-1953) und Emma (Külz-) Trosse (1863-1949).


Denn diese drei Publizistinnen sind nicht nur für den deutschsprachigen Raum von historischer Bedeutung, sondern stehen für lesbische und/oder auch allgemein homosexuelle Emanzipation im Kontext von Sexualreform und Sexualwissenschaft. Die sexualwissenschaftliche Konstruktion einer 'homosexuellen Persönlichkeit', die sich seit Ende des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum entwickelte, verbreitete sich in vielen anderen (wahrscheinlich v. a. westlichen) Ländern. In diese Diskurse intervenierten die drei Frauen Anfang des 20. Jahrhunderts und konnten damit in-/direkt Selbstverständniskonzepte, politische Diskussionen und (zumeist individuelle) Kämpfe von Lesben aus verschiedensten Regionen und Ländern beeinflussen.


Die Lebensgeschichten dieser drei weißen Frauen sollen dabei keineswegs ohne deren teils ambivalente, widersprüchliche und politisch abzulehnende Gedanken, Publikationen und Aktivitäten konturiert werden, mit denen sie sich in den Kontexten von Eugenik/Rassenhygiene, Nationalismus, Militarismus und Kolonialismus bewegten.


Neben biographischen Skizzen zu einzelnen Frauen, die frauenbezogen gelebt haben oder leben und/oder lesben-/schwulenpolitisch aktiv gewesen sind, beleuchten wir als zweiten Schwerpunkt die Geschichte von Lesben in deutschsprachigen Spielfilm(ko)produktionen. Auf der website findet sich eine Lesbenfilmchronik, eine Filmliste sowie Statistiken zur Quantität des lesbian-like im Film.


Außerdem bieten die Seiten weitere Texte zu lokaler Lesbengeschichte, Dokumentationen und Bilder rund um erinnern & gedenken an historische Lesben, Chroniken zum Stöbern und Weitersuchen, Literaturlisten zum download und eine Sammlung von geschichtsbezogenen links.


Wir danken herzlich Claudia Schoppmann und Regula Schnurrenberger für die von ihnen zur Verfügung gestellten Porträts lesbischer Frauen und für wertvolle Hinweise.


Obwohl ein wichtiges politisches Anliegen und ursprünglich auch so geplant, ist lesbengeschichte.de leider nicht barrierefrei, da wir keine Web-Designerin gefunden haben, die dies für so eine komplexe Seite programmieren kann und gleichzeitig bereit ist, dies solidarisch zu tun.


Uns ist es wichtig, speziell den LeserInnen, die ohnehin strukturell von konventionell geschriebenem Wissen ausgegrenzt werden, einen Zugang zu den Texten zu ermöglichen - wir arbeiten dran!


Für seheingeschränkte und blinde LeserInnen bieten wir folgendes an:


Deutsche und englische Beiträge können von uns als Text-Dateien und/oder als Audiodateien angefordert werden! Wenn Sie/ihr die Seite mit Blick auf Barrierefreiheit überarbeiten wollt, nehmen Sie/nehmt ihr bitte mit uns Kontakt auf.


Um die Texte möglichst breit zugänglich zu machen, haben wir uns um Übersetzungen bemüht. Wir danken an dieser Stelle noch einmal herzlich allen 28 FrauenLesben, die bisher – solidarisch-unentgeltlich! – für das online-Projekt in acht verschiedene Sprachen übersetzt haben!!!


Außerdem geht ein herzliches Dankeschön an alle 13 Spenderinnen aus Bonn und Köln, die es ermöglichten, das Design und die Programmierung der Seite sowie die Providerkosten mit € 550.- zumindest in Teilen zu finanzieren!


Nika Schwab (Pro-Me-Dia) danken wir herzlich für die unermüdliche Umsetzung unserer Wünsche in Sachen webdesign und für ihr solidarisches Engagement!


Über Anmerkungen & Anregungen, Texte & Übersetzungen, Lob & Kritik per mail an Kontakt oder im Forum freuen wir uns. Wir wünschen unseren LeserInnen vergnüglichen, spannenden und inspirierenden Lesegenuss.



Mit lesbisch-feministischen Grüßen aus Bonn und Berlin


Ingeborg Boxhammer und Christiane Leidinger



© November 2005


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1 Vicinus, Martha: "They wonder to which sex I belong". The Historical Roots of the Modern Lesbian Identity. In: Feminist Studies 3/1992, 467-497, hier: 468. Übersetzt: "Lesbisches Begehren ist überall, selbst wenn es nirgendwo sichtbar wird".
2 Lesbian History Group: ...und sie liebten sich doch. Lesbische Frauen in der Geschichte 1840-1985. Göttingen: Daphne 1991, 2f. [Orig.: Not a Passing Phase: Reclaiming Lesbians in History, 1840-1985. London: The Women's Press 1989].
3 Traub, Valerie: The Rewards of Lesbian History (Review Essay). In: Feminist Studies 2/1999, 363-394, hier: 363. Übersetzt: "undenkbar, unhörbar [verstummt; schweigend], unsichtbar" lautet das "kritische Klischee über die Präsenz von Lesbianismus".
4 Vgl. für diese Positionen zuletzt z. B. Steidele, Angela: "Als wenn Du mein Geliebter wärest". Liebe und Begehren zwischen Frauen in der deutschsprachigen Literatur 1750-1850. Stuttgart/Weimar: Metzler 2003, 22; Micheler, Stefan: Selbstbilder und Fremdbilder der 'Anderen'. Männer begehrende Männer in der Weimarer Republik und der NS-Zeit. Konstanz: UVK 2005, 49-51.
5 Bennett, Judith M.: "Lesbian-Like" and Social History of Lesbianism. In: Journal of the History of Sexuality 1/2/2000, 1-24, hier: insb. 11f.; 13f.; 16f.; 24. Übersetzung ib/cl. Übersetzt: "Lesben-ähnlich" ["ähnlich einer Lesbe"].

Diese Einführung in erweiterter Form zum Download.
Aus: Invertito. Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten 7/2005 :pdf

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