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Für Claudia

„Du, meine Verzweiflung und mein Streben"


Margot Hanel (1912-1941)

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Foto: Anna Riwkin. Privatbesitz.
Margot Hanel.
Hanel hat dieses Foto im Nov. 1939
ihrer Schwester Gerda zugeeignet.
Foto: Anna Riwkin. Privatbesitz.

Nach ihrem Tod haben sich viele ein negatives Bild von ihr gemacht – vor allem jene, die sie nicht persönlich kannten und den Blick unverwandt auf ihre berühmte Freundin, die schwedische Schriftstellerin Karin Boye (1900-1941), gerichtet hielten. Margot Hanel war über sieben Jahre lang die Lebensgefährtin Boyes gewesen, doch als deutsch-jüdische Immigrantin, die nach dem Freitod Boyes in Schweden ganz auf sich allein gestellt war, verstand sie nur allzu schnell, wie unwillkommen sie eigentlich im Lande war. Am 30. Mai 1941, gerade mal 38 Tage nach Boye, schied auch Margot Hanel freiwillig aus dem Leben. Sie war 29 Jahre alt geworden. Als man sie in ihrer Stockholmer Wohnung auf dem Fußboden liegend fand, hielt sie ein Buch Boyes an die Brust gedrückt, auf der aufgeschlagenen Seite das Gedicht „Wenn ich Dir nur folgen könnte".

Fortan wurde Hanel zum Sündenbock für all das erklärt, was im Leben Boyes nicht so war, wie es nach Meinung Außenstehender hätte sein können.1 Hanel wurde verurteilt als eine, die die „begnadete" Schriftstellerin Boye vom Schreiben abgehalten habe. So als seien die Bücher, die Boye nicht geschrieben hat, wichtiger als die Erfüllung, die sie in der Beziehung zu Hanel fand. Verkannt wurde bei diesem abschätzigen Urteil außerdem, dass Boye just in den Jahren, die sie mit Hanel verbrachte, ihre produktivste Zeit als Schriftstellerin erlebte. Die Erste, die mit der unglückseligen Verunglimpfung Margot Hanels brach, war die schwedische Schriftstellerin Pia-Kristina Garde, die sich in den letzten drei Jahrzehnten in mehreren Publikationen Karin Boye und ihrer Partnerin Margot Hanel gewidmet hat.2

Angefangen hatte alles 1932. In diesem Jahr war Karin Boye, die ihre erste Gedichtsammlung zehn Jahre zuvor vorgelegt hatte und in ihrem Heimatland längst als etablierte Schriftstellerin galt, nach Berlin gekommen, um sich einer Psychoanalyse zu unterziehen. Seit 1929 war Boye mit dem Übersetzer und Schriftsteller Leif Björk (1907-2000) verheiratet, und in Berlin wollte sie Klarheit über ihr eigenes sexuelles Begehren und Erleben bekommen – oder anders gesagt: Sie wollte von ihrer Bisexualität und den mit ihr in Zusammenhang stehenden Depressionen befreit werden. Und Klarheit erlangte Karin Boye in Berlin. Die Scheidung von Leif Björk erfolgte jedenfalls schon 1935. Boyes erster Analytiker in Berlin wurde Dr. Walter Schindler (1896-1986), der als Nervenarzt in der Charlottenburger Knesebeckstraße 33/34 praktizierte. Zunächst lief die Behandlung bei ihm gut an, Boye bewunderte Schindler für seine Gründlichkeit und sein Geschick. Doch schon nach wenigen Wochen wurde sie zunehmend skeptisch. Jetzt lag sie nur noch weinend auf seinem Sofa und entschied sich, die Behandlung bei einer Frau, „Dr. Grete Lampl", fortzusetzen. Die norwegische Psychiaterin Nic Waal (1905-1960), die um jene Zeit in Berlin eine Zusatzausbildung absolvierte, hatte ihr dazu geraten. Es ist bislang nicht gelungen, Gesichertes über die Identität Lampls in Erfahrung zu bringen. Vermutlich handelte es sich bei ihr um die niederländische Psychoanalytikerin Jeanne Lampl-de Groot (1905-1987), eine enge Vertraute Sigmund und Anna Freuds, die zusammen mit ihrem Mann, dem österreichisch-jüdischen Psychoanalytiker Hans Lampl (1889-1958), von 1925 bis 1933 in Berlin lebte und am Berliner psychoanalytischen Institut lehrte.3 Gerade in ihren frühen Jahren beschäftigte sich Lampl-de Groot vorrangig mit weiblicher Sexualität. Das Ehepaar wohnte und praktizierte am Schumacherplatz 2 (heute Waldmeisterstraße, Grunewald).

Die Silhouette

Die in Hinblick auf ihre Bisexualität vorurteilsfreie Ermunterung, die Boye durch „Lampl" erfuhr, trug jedenfalls Früchte: In Berlin führte Karin Boye bald ein freieres Leben als im heimatlichen Schweden. Sie ging aus und amüsierte sich. Die Stadt ließ sie zum ersten Mal so leben, wie sie wollte. Boye entdeckte die Klubs und Cafés für Lesben – und traf eines Abends vor der Bar Silhouette (Geisbergstraße/Ecke Kulmbacher Straße) Margot Hanel, eine junge Frau, die eher klein und recht dünn war. Hanel hatte ein eingeschränktes Sehvermögen und trug eine Brille mit dicken Gläsern. Nach Kajsa Lönngren (1908-1989), einer schwedischen Freundin, mit der Boye im Sommer 1932 zusammenwohnte und die sich in Berlin zur Krankengymnastin ausbilden ließ, verführte Boye Hanel, und die 19-Jährige wurde zur ersten körperlichen Liebe Boyes, zu einer, die sie um ihrer selbst willen liebte, und nicht weil sie eine erfolgreiche Schriftstellerin war.

Karin Boye soll ihre Mitbewohnerin Kajsa Lönngren eines Nachts um Rat gefragt haben. Sie habe eine „Unschuld" verführt und wisse nicht, was sie nun tun solle. Für Lönngren war die Sache klar: In so einem Falle gälten die gleichen „Heiratsverpflichtungen", wie wenn ein Student ein Mädchen verführt, das noch bei den Eltern wohnt.4 Ganz ernst gemeint waren die Worte wohl nicht, denn später gab sich Lönngren überrascht, wie sehr sich Boye die Ermahnung doch zu Herzen genommen hatte. Die Begegnung Hanels mit Boye war aber nicht nur ein Quell der Verpflichtungen, die Beziehung der beiden Frauen zueinander wurde auch bald zu einem Hort des Glücks – für beide Seiten. Margot Hanels Schwester Gerda erzählte später, Hanel sei seit ihrer Bekanntschaft mit Boye aufgeblüht. Sie habe sich nun mehr um ihr Äußeres gekümmert und sei glücklich gewesen. Die Geschwister indes glaubten, ihre Schwester habe einen Mann kennen gelernt, und freuten sich deshalb für sie.

Wer war diese „Unschuld", die 1932 im Alter von 19 Jahren immerhin selbstbewusst genug war, um eine „mondäne" Bar für Lesben im Berliner Westen zu besuchen? Curt Moreck (eigentlich Konrad Haemmerling, 1888-1957) schrieb in seinem berühmt-berüchtigten Stadtführer über das „lasterhafte" Berlin zur Silhouette: „Prachtlos, glanzlos nach außen hin, aber innen behaglich und warm wie ein Boudoir. Der Name an der Front in Silberbuchstaben ganz rokokohaft. Innen keine Weite, aber stets Fülle."5 Gewiss, Anfang der 1930er Jahre gab es in Berlin eine große Zahl an Cafés und Treffpunkten für die Schwulen und Lesben der Stadt sowie homosexuelle und nicht-homosexuelle Touristen und Touristinnen. Die Silhouette war wie das Eldorado eins der Lokale, in die auch viele Heterosexuelle gingen, denn es galt als schick, dort gesehen zu werden.

In der Silhouette und anderen Berliner Bars der Zeit lernte Karin Boye 1932 nicht nur Margot Hanel kennen. Zu dem Kreis lesbischer Frauen, in dem sie sich bewegte, gehörten Freia Eisner (1907-1989) – die Tochter des 1919 ermordeten bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner – und die beiden Künstlerinnen Gerda Rotermund (1902-1982) und Gertrude Sandmann (1893-1981).6 Die zwei Letztgenannten standen auch in freundschaftlicher Verbindung mit Käthe Kollwitz (1867-1945). Karin Boye beeindruckte all diese Frauen sehr, und insbesondere Freia Eisner und Gerda Rotermund besuchten sie später auch in Schweden.7 Es heißt, Boye sei Anfang der 1930er Jahre „überrumpelnd aggressiv und entwaffnend impulsiv und unternehmungslustig" gewesen, sie habe den Mittelpunkt „in einem lebendigen, aber heterogenen Debattierkreis" abgegeben.8 Eisner machte sich zunächst sogar Hoffnungen auf eine engere Beziehung mit ihr. Doch als sie 1933 auf der Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach Stockholm gelangte, sei Margot Hanel schon da gewesen. „Freia, du bist zu spät", soll Boye gesagt haben, was Eisner als Verrat empfand.9 In ihren Augen hatte Karin Boye nicht Wort gehalten und sich an die Frau in ihrem Kreis gebunden, die von allen die Jüngste war.10 Hier täuschte sich Freia Eisner allerdings im Rückblick, denn sie vernachlässigte bei ihrer Interpretation, dass Karin Boye im Frühjahr 1933 noch mit Gunnel Bergström (1911-1981) liiert war.

Kindheit und Jugend in Berlin

Margot Leonie Hanel wurde am 7. April 1912 als jüngste Tochter des Kaufmanns Felix Hanel und dessen Ehefrau Margarete in Berlin geboren. Sie hatte vier ältere Geschwister, zwei Brüder und zwei Schwestern. Die Mutter war Jüdin, der Vater „Arier". Er starb allerdings schon 1931 an Krebs. Die Familie wohnte in der Würzburger Straße 16 in Charlottenburg, unweit vom Tauentzien, dem Kaufhaus des Westens und der Gedächtniskirche. Hier war Margot Hanel auch evangelisch konfirmiert worden; dem Judentum fühlte sich die Familie offensichtlich nicht verbunden. Als Hanel Boye 1932 kennen lernte, lebte sie noch zu Hause bei ihrer Mutter, die eine Witwenrente bezog. Die Tochter hatte offenbar noch keine Berufsausbildung genossen und stand vor der schwierigen Frage, was sie aus ihrem Leben machen sollte. Karin Boye selbst und ihre Freundin Kajsa Lönngren wohnten ab Mai 1932 ganz in der Nähe, bei Elvira Schlesinger in der Landshuter Str. 33. Boye bestritt ihren Lebensunterhalt in Berlin durch das Schreiben von Artikeln und Erzählungen für schwedische Zeitschriften, außerdem übersetzte sie die Memoiren Frida Strindberg-Uhls und den Roman Etzel Andergast (1931) von Jakob Wassermann ins Schwedische.

Die Monate, die Karin Boye 1932 in Berlin verbrachte, waren allerdings nicht uneingeschränkt glücklich. Vor allem anfangs klagte sie in Briefen an schwedische Freunde über Einsamkeit, und auch wenn sie die deutsche Sprache bald recht gut beherrschte, hielt sie Ende Juni 1932 fest, sie sehne sich nach ihrer Heimat. Scherzend fügte sie hinzu: „Ich werde mich nie in einer Fremdsprache verlieben können, und deshalb finde ich, kann man auch gleich wieder nach Hause fahren."11 Als Karin Boye im Herbst desselben Jahres nach Schweden zurückkehrte, fand ihre Beziehung zu Margot Hanel denn auch ein frühes Ende. Boye ging jetzt ein Verhältnis mit Gunnel Bergström ein, der Ehefrau des Schriftstellerkollegen Gunnar Ekelöf (1907-1968), doch die Beziehung hielt nur wenige Monate. Als Boye im Sommer 1933 dann erneut für eine kurze Zeit nach Berlin kam, nahm sie den Kontakt mit Margot Hanel wieder auf. Und nur wenige Monate später folgte Hanel Boye nach Schweden, wo sie mit ihr zusammen in der Stockholmer Skeppargatan 102 wohnte. Allgemein wurde angenommen, Hanel sei aus Deutschland geflüchtet und Boye kümmere sich eben um sie. Ganz falsch war diese Annahme natürlich nicht. Nähere Bekannte wussten aber um die Liebesbeziehung der beiden Frauen zueinander, denn schon im Frühjahr 1934 bezeichnete Boye Hanel als „meine Frau", so etwa gegenüber dem schwedischen Dramatiker Ebbe Linde (1897-1991), mit dem sie befreundet war.12 In einem Brief an ihn hielt sie fest, sie sei „glücklicher denn je in meinem Leben, auf eine fast unanständig bürgerliche Art und Weise ruhig und ausgesprochen glücklich."13 Über Hanel teilte Boye bei der Gelegenheit mit: „Sie ist zweiundzwanzig Jahre alt, eine Deutsche und ganz objektiv gesehen ein sehr lieber und netter Mensch." Auch in ihrem Folgebrief kam Boye auf Hanel zu sprechen, schließlich galt es, einen gemeinsamen Besuch bei den Lindes im südwestschwedischen Göteborg vorzubereiten: „Meine gute Freundin legt eher Wert aufs Praktische und ist kein Wichtel-Typ.14 Sie ist klug und liebt Kinder im höchsten Maß, das trifft vielleicht vor allem auf kleine Kinder, Fünf- bis Sechsjährige, zu, aber, ich glaube, auch auf Ältere; sie stellt keinen hohen Ansprüche und ist häuslich, nicht immer ganz ausgeglichen vom Gemüt her, aber das auch nicht weniger als die meisten Menschen, es fällt nicht weiter ins Gewicht. Vernünftig, wie gesagt, wenn auch nicht direkt psychoanalytisch bewandert."15 Dass Karin Boye und Margot Hanel als Paar zusammen lebten und wirtschafteten, wusste auch Gerda Rotermund nur zu gut. Anfang 1937 schrieb sie an ihre Freundin Ellen Bernkopf-Catzenstein (1904-1992) über Boye: „Ihre Ehe ist immer noch glücklich."16

Die „Frau" einer berühmten Schriftstellerin

In Schweden war Margot Hanel nicht nur sozial, sondern auch finanziell von Karin Boye abhängig. Zudem litt sie unter erheblichen gesundheitlichen Beschwerden, deretwegen sie immer wieder stationär in medizinischer Behandlung war. Von staatlicher Seite erhielt sie jeweils nur für ein halbes Jahr eine Aufenthaltsbewilligung, die auch daran geknüpft war, dass sie keiner Erwerbstätigkeit nachging. Im Januar 1935 fühlte sich Karin Boye gegenüber der schwedischen Einwanderungsbehörde sogar genötigt zu betonen, „Fräulein Hanel" sei kein Flüchtling, außerdem interessiere sie und beschäftige sie sich nicht mit Politik.17 Erst im Frühjahr 1936 ging Margot Hanel eine Scheinehe ein, um die schwedische Staatsbürgerschaft zu erhalten.18 Sie heiratete Arvid Edman (1901-1978) aus Ösmo, 50 km südlich von Stockholm.19

Im Spätsommer 1934 scheint es erstmals zu Konflikten zwischen Karin Boye und Margot Hanel gekommen zu sein, die jedoch nicht so gravierend waren, dass eine der beiden Frauen ihre Beziehung zueinander in Frage stellte. Karin Boye arbeitete um diese Zeit an einem neuen Buch, dem Roman Kris (dt. Krisis, 1985), und benötigte dringend Ruhe. Margot Hanel fuhr deshalb im September 1934 zurück nach Berlin; ausgemacht war allerdings, dass ihr Aufenthalt in der alten Heimat nicht länger als zwei Monate dauern sollte. In dieser Zeit wollte Karin Boye ihr Buch abschließen. Hanel erkrankte aber in Berlin und musste medizinisch behandelt werden. Die Ärzte waren zunächst ratlos, diagnostizierten dann aber eine Verlagerung der Gebärmutter und eine Entzündung im Unterleib als Folge von Unterkühlung. Aus dieser Diagnose heraus erklärte sich Boye dann auch die Gefühlsausbrüche ihrer Freundin, die sie selbst miterlebt hatte. Im Dezember 1934 kehrte Hanel schließlich nach Schweden zurück. Boye war glücklich und überzeugt, ihre Beziehung zueinander habe sich nun geklärt. In einem Brief an Ebbe Linde bekannte sie: „Das ganze gleicht natürlich einer Lotterie, so eine Beziehung vielleicht noch mehr als eine normale, nicht zuletzt deshalb, weil die Auswahl so begrenzt ist. Aber zu zweit muss man sein. Ich kann mir nur schwer irgendein Schicksal vorstellen, das schlimmer sein kann als das, zu ewiger Einsamkeit verdammt zu sein."20

Karin Boye in Berlin
Karin Boye in Berlin.
Foto: Kajsa Lönngren 1932. Privatbesitz Pia-Kristina Garde.

Im Umgang mit Margot Hanel war Karin Boye wechselhaft. Einerseits nannte sie Hanel zärtlich „Vögelchen". Wenn es ihr nicht gut ging, konnte sie aber auch böse sein und gegenüber Dritten schlecht über Hanel reden. Einmal soll sie die Beziehung zu ihr sogar als „ein ausgehaltenes Verhältnis" (im Original auf Deutsch) charakterisiert haben.21 Der Eindruck, Karin Boye sei irgendwie von Margot Hanel abhängig gewesen, weil die „Auswahl" an potentiellen Partnerinnen so gering war, täuscht allerdings. Freia Eisner behauptete 1986 über ihre Zeit nach der Flucht aus Deutschland: „Was in Schweden Homosexuelle rumgerannt sind – ich habe gestaunt, denn ich kannte das gar nicht so."22 Allerdings überrascht diese Aussage. Schließlich war Eisner mit den Berliner Verhältnissen vertraut, und die deutsche Hauptstadt galt vor 1933 nicht umsonst als „Mekka" homosexueller Frauen und Männer aus ganz Europa. Eine der Silhouette oder dem Eldorado vergleichbare Bar war immerhin die Grotta Azzurra in der Stockholmer Grev Magnigatan 5. Sie gilt heute als erste Nachtbar der Stadt.23 Schon 1926 hieß es in der Zeitung Fäderneslandet herablassend: „Wunderliche Gestalten füllen die Grotte – Herren von unmissverständlich exotischem Aussehen und Damen, die alles andere als ‚zweideutig' sind […]. Ein französisch-italienisch-schwedisches Tänzerpaar tanzt anzügliche Orang-Utan-Tänze, während junge Männer an den Tischen sitzend einander in ‚warmer Brüderschaft' liebkosen."24

Ob Karin Boye und Margot Hanel zusammen hier verkehrten, ist nicht belegt, kann aber auch nicht ausgeschlossen werden. Von ihrer Wohnung in der Skeppargatan lag die Grotta Azzurra wenig mehr als 1.500 Meter entfernt, und allein oder in Begleitung ihrer Künstlerfreunde soll Boye das Lokal mehrfach besucht haben.25 Ein anderes „einschlägiges" Lokal war das Restaurant Mona Lisa in der Vasagatan 7. Ende der 1930er und Anfang der 1940er Jahre wurde es insbesondere von Ausländern und schwedischen Künstlern besucht. Nach Ermittlungen der Stockholmer Kriminalpolizei sollen die Stammkunden zum größten Teil Homosexuelle gewesen sein, zwischen denen es zu allerhand „Perversitäten" komme – so hieß es zumindest in einem vorurteilsbeladenen Bericht der Polizei.26 Doch dürften Boye und Hanel für den Fall, dass sie diese Bars besuchten, eine gewisse Vorsicht an den Tag gelegt haben. Gleichgeschlechtliche Kontakte waren in Schweden bis 1944 strafbar, und aufgrund geschlechtsneutral formulierter Gesetze galt dies für Männer und Frauen gleichermaßen.27 „Widernatürliche Unzucht" konnte mit Strafarbeit von bis zu zwei Jahren geahndet werden.

Ende 1935 hatte Margot Hanel einen Platz als unbezahlte Hospitantin in einem Kindergarten gefunden und beabsichtigte, sich zur Kindergärtnerin ausbilden zu lassen. Die Ausbildung wurde ihr dann aber mit der Begründung verwehrt, dass sie mit einer Frau zusammenlebte.28 Karin Boye nahm wenig später eine Stelle an der Schule Viggbyholm an, einer Internatschule in der Ortschaft Täby außerhalb Stockholms, um den Lebensunterhalt für sich und Margot Hanel zu bestreiten. Da sie Ruhe zum Arbeiten brauchte, wohnte sie unter der Woche zeitweise in der Schule, die um diese Zeit auch ein zentraler Zufluchts- und Sammlungsort deutschsprachiger Flüchtlinge in Schweden war. Psychisch war Boye längst nicht mehr so stabil wie in ihrer Berliner Zeit, denn auf Viggbyholm soll sie mehrmals versucht haben, sich das Leben zu nehmen. Sie vertiefte jetzt auch die Beziehung zu ihrer alten Freundin Anita Nathorst (1894-1941) wieder, die sie bereits seit 1918 kannte und die in Alingsås bei Göteborg – über 400 km südwestlich von Stockholm – wohnte. Die sechs Jahre ältere Nathorst war in gewisser Weise die große, unerfüllte Liebe im Leben Karin Boyes, denn Nathorst erwiderte die Gefühle Boyes nicht. Sie war Ende der 1930er Jahre an Krebs erkrankt und bat die Freundin wiederholt, sie besuchen zu kommen. Nachdem Boye auf Viggbyholm gekündigt hatte, wohnte sie dann um 1939 auch die meiste Zeit in Alingsås. Hanel ging derweil auf die Internatschule Birkagården folkhögskola in Stockholm und begann eine Buchbinderlehre bei Olof Bergqvist (1913-1979).

Ende 1940 kam Margot Hanel erneut ins Krankenhaus und wurde operiert. Als sie nach Hause zurückkehrte, fühlte sie sich zwar schwach, aber da Boye just zu dieser Zeit an Grippe erkrankte, musste sie ihre Freundin pflegen und steckte sich bei ihr an. Etwa gleichzeitig erhielt Karin Boye einen besorgniserregenden Brief von Anita Nathorst, es gehe ihr sehr schlecht, Karin möge bitte wieder kommen und sie besuchen. Als sich Hanel von der Grippe erholt hatte, fuhr Boye noch Anfang 1941 nach Alingsås. Zusammen mit einem Brief vom April 1941 sandte sie Kjell Hjern (1916-1984), dem Redakteur der Zeitschrift Palette, zwei Gedichte, die er möglichst mit einem dritten, zuvor eingereichten Gedicht in der Zeitschrift drucken solle. Als Titel schlug Boye „Drei Liebesgedichte" vor, doch bat sie Hjern darum, die Korrekturfahnen nicht nach Stockholm zu schicken. Schließlich waren die Gedichte nicht an Margot Hanel gerichtet. In ihrem Begleitbrief fragte Boye Hjern: „Wie verhalten sich Dichter so im Allgemeinen, wenn sie verheiratet sind und dann Liebesgedichte schreiben, die offenbar nicht für den Partner sind? Wie Lindwürmer etwa?"29

Auch danach dürften sich die beiden Freundinnen jedoch noch gesehen und gesprochen haben. Aus Anlass eines Treffens in der literarischen Gesellschaft „Samfunnet De Nio" (Gemeinschaft der Neun) war Boye Mitte April 1941 in Stockholm. Den Geburtstag Hanels am 7. des Monats hatte sie auch nicht vergessen.

Laut Aussagen von Freunden und nach ihren eigenen hinterlassenen Briefen zu urteilen war Karin Boye in den letzten Monaten ihres Lebens in einer bedrückten Stimmung. Sie verschwand am 23. April 1941 unvermittelt aus dem Haus der befreundeten Familie Bratt, bei der sie in Alingsås wohnte. Eine Vermisstenmeldung wurde sofort verbreitet, auch über das Radio. Die örtliche Polizei, das schwedische Militär, Pfadfinder und Privatpersonen suchten vergeblich nach ihr. Erst vier Tage später wurde Karin Boye tot in einem Waldstück nördlich von Alingsås gefunden. Sie hatte sich mit Schlaftabletten vergiftet. Margot Hanel nahm sich wenige Wochen später, Ende Mai 1941, in Stockholm ebenfalls das Leben, und Anita Nathorst starb im August des gleichen Jahres in Alingsås.

Margot Hanel und Karin Boye
Margot Hanel, Karin Boye und zwei mit ihnen bekannte Frauen
in Pärnu/Estland (von rechts nach links).
Juli 1935. Foto: Privatbesitz.

Ausgegrenzt und gedemütigt


Margot Hanel war in Schweden und im Umfeld Karin Boyes nie mit offenen Armen empfangen worden. Insbesondere Boyes Mutter, Signe Boye (1875-1976), lehnte Hanel ab, und nach dem Tod ihrer Tochter war sie der Meinung, auf sie keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen. Ein Grund hierfür dürfte die offen gelebte Homosexualität der beiden Freundinnen gewesen sein. Noch bevor Karin Boye auf dem Östra kyrkogården in Göteborg beigesetzt wurde, wurde es Hanel untersagt, im Stockholmer Trauergottesdienst am 4. Mai 1941 neben den nächsten Familienangehörigen Boyes zu sitzen. Sie wurde weder in der Todesanzeige erwähnt noch zum Traueressen eingeladen. Nach Aussage mehrerer Zeitzeugen verließen die Familienangehörigen Boyes die Trauerfeier mit dem Auto. Margot Hanel blieb allein und gedemütigt vor der Kapelle zurück. Hinzu kam, dass Signe Boye Spiritistin war und nach dem Tod ihrer Tochter behauptete, Nachrichten von ihr aus dem Jenseits empfangen zu haben. Ihnen zufolge sollte sie alle Briefe und Gedichte vernichten, die Karin Boye einst an Margot Hanel geschrieben hatte. Deshalb forderte sie Hanel auf, ihr sämtliche Briefe und Manuskripte Boyes aus ihrem Besitz zu übergeben. Hanel kam diesem Wunsch Signe Boyes nach, und folglich gibt es heute, abgesehen von zwei veröffentlichten Gedichten Karin Boyes, keine Unterlagen erster Hand, die Zeugnis über die Beziehung zwischen Boye und Hanel ablegen.

Mit wem Margot Hanel nach dem Tod Karin Boyes in näherem Kontakt stand, lässt sich im Einzelnen kaum mehr darlegen. Zu ihren Freunden gehörten wohl der Komponist Hans Holewa (1905-1991) und seine Frau Alice (1907-2003), die 1937 aus Österreich nach Schweden geflüchtet waren. Doch auch hier ist unklar, wie eng die Freundschaft eigentlich war. In einer neueren Quelle heißt es, die Holewas hätten auch nach dem April 1941 Kontakt mit Hanel gehalten, der Letzten von Karin Boyes „Lebensgefährtinnen" – ganz so als habe Boye mehrere Partnerinnen gehabt und Hanel sei nur eine unter vielen gewesen.30 Möglicherweise handelt es sich bei der Pluralform nur um eine Gedankenlosigkeit des Autors. Wenn sie aber auf die Holewas selbst zurückgeht, dürfte ihr Verständnis für die Bedeutung, die Hanel für Boye hatte, nicht sehr tief gewesen sein.

Die Aussagen und Urteile über Margot Hanel, die nach ihrem Tod im Umkreis der Familie Boye und der ehemaligen Freunde Karin Boyes florierten, waren meist abwertend. Oft ging es um Hanels Aussehen, ihren vermeintlichen Mangel an formaler Bildung und ihren deutschen Akzent – so wurde immer wieder betont, dass Margot den Namen Karin mit einem langen, hellen, eben deutschen A aussprach –, überhaupt setzte sich schnell die Auffassung durch, Margot Hanel habe Karin Boye doch nur am Schreiben gehindert.31 Was hätte diese nicht alles erreichen können, wenn … Auch Margit Abenius (1899-1970), die erste Biographin Karin Boyes, die seit Mitte der 1920er Jahre mit Boye befreundet war, unternahm keine größeren Versuche, Näheres über Hanel, ihren Hintergrund und ihr Leben in Erfahrung zu bringen – und das, obwohl in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch etliche Familienangehörige Hanels lebten. Als Abenius' Biographie Drabbad av renhet (Von Reinheit getroffen) 1950 erschien, wurde sie Hanel in keinster Weise gerecht. Der Bruder Kurt Hanel (1901-1972) lebte in Berlin bzw. Potsdam, und auch die zwei Schwestern Charlotte und Gerda starben erst 1993 bzw. 2012. Lediglich der zweite Bruder, Werner Hanel (geb. 1904), gilt seit dem Zweiten Weltkrieg als verschollen. Bis heute weiß niemand, was aus ihm geworden ist.32

Margit Abenius urteilte 1950 wenig differenziert und mit deutlichen Anklängen von Antisemitismus und Homophobie: „Margot Hanel war ein bürgerliches Mädchen aus Berlin, zwölf Jahre jünger als die Schriftstellerin. Sie wurde in eine unglückliche Mischlingsehe zwischen einer jüdischen Mutter und einem deutschen Vater geboren, in der alle vier (sic) Kinder Anzeichen sexueller Inversion zeigten. Bei flüchtiger Bekanntschaft schien sie ein intellektueller Typ zu sein, aber im Grunde war sie nicht intellektuell und auch nicht intelligent. Sie hatte überhaupt keine geistigen Ressourcen, die auch nur annähernd an die von Karin Boye heranreichten. Aber sie konnte starke Gefühle haben und band sich sofort mit einer großen Liebe an Karin, einer Liebe, in die sowohl eine eifersüchtige Verehrung und eine grenzenlose Bewunderung als auch das dringliche Zärtlichkeitsbedürfnis eines hilflosen Kindes eingingen. Karin Boyes Gefühle für sie waren wohl von Anfang an eher äußerlich sensueller Natur, auch wenn mütterliche Zärtlichkeit jetzt sicherlich schon eine Rolle spielte."33 Das Bild, das sich Abenius von Hanel gemacht hatte, war eindeutig – und abschätzig. Doch ist bis heute unklar, aus welchen Motiven sich die Ablehnung speiste. An anderer Stelle schrieb Abenius herablassend und ohne viel Mitgefühl: „Margot war eins dieser Opfer einer unmenschlich strengen Erziehung – mit Prügeln und einem eisernen väterlichen Willen –, dessen Ich und Selbstständigkeit von Anfang an gebrochen worden waren, und solche Menschen können äußerst gefährlich werden, wenn sie sich an eine stärkere Persönlichkeit klammern, die ihnen Mitleid schenkt."34

Margot Hanel und Karin Boye
Margot Hanel (rechts) und Karin Boye (links) in der
Sommerfrische. Foto: Privatbesitz

Mehrfach betonte Abenius in ihrem Buch, Margot Hanel sei schwach, eifersüchtig, hilflos und unselbständig gewesen. Dass sie besonders schutzbedürftig und ihr Status als deutsch-jüdischer Immigrantin in der schwedischen Gesellschaft prekär war, erkannte die Autorin nur bedingt. Für die Familie Boye und ihre Antipathie gegenüber Hanel zeigte Abenius hingegen großes Verständnis. Sie befand, Hanel sei Boye wie ein Schatten gefolgt, sie habe sie beschwert und ihre Kräfte geschmälert. Kurzum: Hanel habe überhaupt kein Verständnis für die schöpferische Arbeit Boyes gehabt, „vielmehr störte sie ihre Freundin mit einer Unmenge an Geschwätz über Nichtigkeiten und Ansprüchen auf Aufmerksamkeit."35 Margot Hanels Freunde von der Birkagården folkhögskola beschrieben sie später als lustig und munter. Sie soll viel gepfiffen haben und immer zu einem Streich aufgelegt gewesen sein. Auch hatten viele schwedische Freunde Karin Boyes bemerkt, dass diese viel freier, offener und fröhlicher im Umgang war, wenn sie mit ihren deutschsprachigen Freunden, so etwa auf der Schule Viggbyholm, zusammen war. Während Boye mit Hanel zusammenlebte, schrieb sie zudem ihren berühmten Zukunftsroman Kallocain. Als er 1940 erschien (in deutscher Übersetzung erstmals 1947), war das einer der größten literarischen Erfolge im Leben Karin Boyes überhaupt. Auch der Roman Kris (1934) und die Gedichtsammlung För trädets skull (Um des Baumes willen, 1935), in dem sich das bis heute bekannteste Gedicht Boyes befindet („Ja visst gör det ont", dt. „Ja, es schmerzt gewiß"),36 entstanden in der Zeit, in der Boye mit Hanel zusammenlebte. Aber plötzlich zählte das alles nicht mehr. Potenziell positive Auswirkungen der Beziehung der beiden Frauen zueinander wurden nicht zur Kenntnis genommen.

Margot Hanel war nach dem Tod Karin Boyes allein, und sie befand sich in einer verzweifelten Lage. Als „Halbjüdin" hatte sie keine Möglichkeit, nach Deutschland zurückzukehren. Seit dem April 1940 waren sogar die beiden Nachbarländer Schwedens, Dänemark und Norwegen, von der deutschen Wehrmacht besetzt. Dadurch waren der Zweite Weltkrieg und die Nazis bedrohlich nah gerückt. Hanel hatte nach wie vor keinen Beruf erlernt (erlernen können), und sie verfügte über keine nennenswerten Einkünfte. Für die Tätigkeit einer Buchbinderin soll sie zudem körperlich viel zu schwach gewesen sein. Es scheint, als habe Hanel gegen Ende ihres Lebens mehrfach Kontakt mit den ehemaligen Freunden Boyes gesucht. So habe sie sie angerufen und gefragt, ob sie damit zufrieden seien, wie sie ihre Bücher eingebunden habe, ob sie sonst etwas tun könne. Nein, hätten sie geantwortet, alles sei in Ordnung. Offenbar hat niemand diese Fragen als Hilferufe verstanden. Hanel schrieb ein Testament und warf es in den Briefkasten der Rechtsanwältin Margareta Sandberg (1897-1983), die ebenfalls mit Boye befreundet gewesen war. Auch sie scheint nicht sogleich erkannt zu haben, was vor sich ging. Am letzten Tag ihres Lebens suchte Margot Hanel schließlich das Hausmeisterpaar Jakobsson in der Skeppergatan 102 auf, um sich bei ihnen für ihre Freundlichkeit zu bedanken. Doch auch sie sahen die Signale nicht.

Zurück in der einst gemeinsamen Wohnung legte Hanel fein säuberlich Zettel und kleinere Geldsummen auf den Küchentisch, von denen sie meinte, dass sie sie Freunden und Bekannten schuldig war. Dann stellte sie ein Foto Karin Boyes auf den Fußboden, arrangierte rechts und links davon Kerzenständer, zog sich ihren Schlafanzug an, schloss die Türen, verstopfte die Türspalten mit Zeitungspapier – und öffnete den Gashahn. Als sie am nächsten Tag nicht zur Arbeit erschien, machte sich ihr Chef Sorgen und bat einen Kollegen, nach ihr zu sehen, weil er selbst nicht in Stockholm war. Als dieser Kollege zusammen mit dem Hausmeister die Wohnung öffnete, fanden die beiden Männer Margot auf dem Boden liegend vor. Die Männer riefen umgehend einen Notarztwagen, der Hanel ins Serafimer-Lazarett brachte, doch dort konnte nur noch festgestellt werden, dass sie verstorben war.

Im Urteil der Nachwelt


Margot Hanel hat keinen Abschiedsbrief hinterlassen, und sie wurde, wie sie es testamentarisch bestimmt hatte, eingeäschert. Am 8. Juni 1941 wurde sie auf dem Norra kyrkogården in Stockholm beigesetzt. Hier erhielt sie aber keinen Grabstein, sondern nur eine einfache Grabmarkierung. Ihre Schwester Gerda Hanel (1911-2012) war die Einzige ihrer Angehörigen, die die Grabstelle später je besucht hat. Pia-Kristina Garde hatte Gerda Hanel Ende der 1970er Jahre ausfindig gemacht, sie in Deutschland besucht und ihr schließlich die Stelle gezeigt, an der Margot Hanel beigesetzt wurde.

Doch auch nach der versöhnlichen Begegnung zwischen Pia-Kristina Garde und Gerda Hanel kam es noch zu unschönen Ereignissen, denn 1981 legte der deutsch-schwedische Schriftsteller Peter Weiss (1916-1982) den letzten Band seines autobiographisch geprägten Opus Magnum Die Ästhetik des Widerstands vor. Im dritten Teil dieses Werks referiert Weiss über seine behaupteten Begegnungen mit Karin Boye im Jahr 1940 und gibt vermeintlich geführte Gespräche mit der Schriftstellerkollegin wieder. Nach Weiss, der Boye in Wahrheit nie persönlich getroffen hatte, hatte diese um 1940 den Lebensmut verloren und litt an einer unheilbaren Todessehnsucht. So fühlte sich der Ich-Erzähler des Romans in dieser Auffassung nur bestätigt, als er ein Jahr später vom Freitod Boyes erfuhr. Die Ausführungen zu Margot Hanel, die Weiss ebenfalls nie kennen gelernt hatte, sind durchgehend negativ. Nach seinen Worten war Hanel ein „geprügelte[s], zur Unterwerfung erzogne[s], kränkliche[s] Mädchen",37 das Boye „erbärmlich anhing".38 Was dabei besonders fatal war: Als vermeintlich neutraler Chronist berief sich Weiss' Alter ego auf Boye, zu der er einen direkten Kontakt vorgab. Er behauptete, er gebe ihre Äußerungen „ungefiltert" weiter, und verlieh sich damit eine doppelte Autorität. So soll Boye ihm gestanden haben, Hanel liege ihr in ihrer Unselbständigkeit zur Last, sie selbst sei ihrer überdrüssig geworden: „Margot habe sie nur noch gestört, sie brauche zum Arbeiten das Alleinsein, ein Alleinsein, das, wie sie sagte, wie die Ruhe des Todes sei."39 Laut Weiss habe Boye Hanel überhaupt einst als junges Mädchen nach Schweden geholt, ohne zu wissen, dass ihr als Jüdin die Vernichtung drohte. Wollte man sich dieser Deutung anschließen, müsste man in die Überlegung aber auch miteinbeziehen, dass das vermeintliche Unwissen Boyes um die Judenverfolgung in Deutschland, die im Laufe der 1930er und frühen 1940er Jahre bis dahin ungeahnte Ausmaße annahm, um 1933 kaum als individuelles Versäumnis bewertet werden kann. Als Der Spiegel drei Jahre nach Weiss einen Artikel über Karin Boye und ihren hochgelobten Roman Kallocain brachte, in dem diese als Nazi-Sympathisantin und Erotomanin dargestellt und auch der Name Margot Hanels genannt wurde,40 riss das bei deren Angehörigen in Deutschland so manche Wunde wieder auf.

Margot Hanel mit Widmung
Margot Hanel.
Hanel hat dieses Foto im Dez. 1939
ihrem Bruder Kurt und dessen
Frau Grete zugeeignet.
Foto: Anna Riwkin. Privatbesitz.

Heute trägt kein Nachfahre und kein näherer Verwandter Margot Hanels mehr den Nachnamen Hanel. Es waren vor allem deutsche Nazis, die Unglück über die Familie gebracht haben. Doch nicht nur sie haben ihr Leid zugefügt, auch andere haben durch ihr mangelndes Einfühlungsvermögen den Schmerz der Überlebenden vertieft, angefangen von den Familienangehörigen, den Freunden und Freundinnen Karin Boyes über Margit Abenius bis hin zu Peter Weiss. Margot Hanel nahm sich 1941 offenbar aus Verzweiflung das Leben, weil sie sich in Schweden allein und unverstanden fühlte. Als deutsche Jüdin und lesbische Frau war sie doppelt stigmatisiert. Die Mutter Margarete war bereits 1936 an Herzversagen gestorben, nachdem sie unvermittelt Besuch von der Gestapo erhalten hatte. Margots Schwester Gerda wurde um diese Zeit untersagt, den Vater ihrer 1935 geborenen Tochter zu heiraten, weil sie als Jüdin galt. Margot Hanel und Karin Boye versuchten Ende der 1930er Jahre mehrfach, den beiden nach Schweden zu verhelfen, doch erhielten die zwei keine Pässe. Mutter und Tochter überlebten den Zweiten Weltkrieg auf der Flucht in der Nähe von Tetschen-Bodenbach im Sudetenland, und noch Anfang der 1980er Jahre wurden sie auf unliebsame Art an die Vergangenheit erinnert. Das einseitige Bild, das Margit Abenius 1950 von Margot Hanel gezeichnet hatte, dürfte für die herablassenden Formulierungen Peter Weiss' und des Spiegel die allfällige Blaupause abgegeben haben. Hier wie da war und blieb sie ein unselbständiges, bedürftiges und besitzergreifendes Mädchen. Aber am schwersten ins Gewicht fällt wohl, dass Abenius die Gefühle Karin Boyes für Margot Hanel nicht als Liebe, sondern als Mitleid bezeichnete, und das, obwohl Boye in einem ihrer letzten Briefe an Hanel geschrieben hatte: „Du und ich, wir gehören für immer zusammen."41 Außerdem soll Boye noch kurz vor ihrem Tod zu Hanel gesagt haben: „Dass Anita sterben wird, weiß ich. Aber ich selbst will nicht sterben – ich habe immer noch eine Aufgabe, und ich habe Dich. Dass ich Dich habe, macht mich stark."42

Wären da nicht die steten Einlassungen der schwedischen Schriftstellerin Pia-Kristina Garde seit nunmehr über 30 Jahren, die Urteile Margit Abenius' und Peter Weiss' hätten möglicherweise heute noch unhinterfragt Bestand. Schließlich hat auch die Mutter Karin Boyes auf ihre Art zu der einseitig-negativen Erinnerung an Margot Hanel beigetragen und die Liebe zweier Frauen zueinander tendenziell unsichtbar gemacht. Angeführt werden soll hier deshalb eins der beiden Liebesgedichte, die Karin Boye einst Margot Hanel gewidmet hatte. Aus ihm sprechen Hingabe und Dankbarkeit. Das Gedicht schmückt heute die Gedenktafel an dem Haus in Stockholm, in dem Boye und Hanel von 1933 bis 1941 zwar mit Unterbrechungen, aber doch zu großen Teilen gemeinsam wohnten. Es lautet (in deutscher Übertragung):

Für Dich

Du, meine Verzweiflung und mein Streben,
du nahmst mir all mein ganzes Leben,
doch was deine Wünsche von mir wollten,
hast du mir tausendfach entgolten.43



Raimund Wolfert (Berlin 4/2017)





1 Vgl. Garde, Pia: Du och jag hör ihop för livet, in: Parnass 1993, Nr. 2, S. 41.


2 Auch der vorliegende Artikel fußt in nicht unerheblichem Maße auf der Forschungsleistung von Pia-Kristina Garde. Vgl. Garde, Pia: Karin Boye in Berlin, oder: Versuch einer Neubewertung einer zur Heiligen stilisierten lesbischen Schriftstellerin, in: Berlin Museum (Hrsg.): Eldorado. Homosexuelle Frauen und Männer in Berlin 1859-1950. Geschichte, Alltag und Kultur. Berlin: Frölich & Kaufmann 1984, S. 200-204; Garde, Pia: Du och jag hör ihop för livet, in: Parnass 1993, Nr. 2, S. 40-43 (online: https://www.karinboye.se/om/artiklar/margot-hanel.shtml); Garde, Pia-Kristina: Karin Boye och människorna omkring henne. En fotobok. Lund: Ellerströms 2011; Garde, Pia-Kristina: Karin Boye. Okända brev och berättelser. Lund: Ellerströms 2013; Garde, Pia-Kristina: Karin Boye. Nycklar och samtal. Lund: Ellerströms 2016.


3 Vgl. Ogilvie, Marilyn Bailey und Harvey, Joy Dorothy: The Biographical Dictionary of Women in Science: L-Z. New York: Routledge 2000, S. 738.


4 Abenius, Margit: Drabbad av renhet. En bok om Karin Boyes liv och diktning. Stockholm: Albert Bonniers Förlag 1950, S. 201; vgl. Garde 2011, S. 132.


5 Moreck, Curt: Führer durch das „lasterhafte". Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung 1996 (erstmals erschienen 1931), S. 154.


6 Zu Eisner und Sandmann siehe Schoppmann, Claudia: Zeit der Maskierung: Lebensgeschichten lesbischer Frauen im „Dritten Reich". Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuchverlag 1998. Offenbar handelte es sich bei diesem „Kreis" von Freundinnen aber um keine geschlossene Gruppe. Wie aus Briefen hervorgeht, lernten sich Gerda Rotermund und Gertrude Sandmann erst 1949 persönlich kennen, obwohl Sandmann Rotermund da schon seit etwa 25 Jahren namentlich ein Begriff war. Akademie der Künste, NL Gerda Rotermund (Mappe Rotermund 8): Gerda Rotermund an Ellen Bernkopf-Catzenstein, 28.6.1949 (Zusatz vom 22.7.1949). Rotermund sandte noch 1940 Briefe an ihre Mitte der 1930er Jahre nach Palästina emigrierte Freundin, die Bildhauerin Ellen Bernkopf-Catzenstein, über Karin Boye nach Jerusalem. Vgl. Saure, Gabriele und Weström, Hilde (Hrsg.): Gerda Rotermund. Leben und Werk. Berlin: Verlag Schwarz auf Weiss 1985, S. 22.


7 Eine andere Schwedin, die in dem Kreis lesbischer Frauen eine Rolle spielte, war die Diplomatentochter Lilian Löwenadler (1903-1943), die später eng mit der tschechoslowakischen Schriftstellerin deutscher Sprache Ilse Weber (1903-1944) befreundet war. Zu Ilse Weber siehe im Übrigen Weber, Hanus und Garde, Pia-Kristina: Ilse. Stockholm: Föreningen Yad Layeled 2000 bzw. Weber, Hanus: Ilse. A Love Story Without a Happy Ending. Stockholm: Författares Bokmaskin 2004.


8 Zit. nach Garde 1984, S. 200. Die Worte gehen auf Vilhelm Scharp (1896-1978), den Schwedischlektor an der Berliner Universität Anfang der 1930er Jahre, zurück.


9 Freia Eisner im Gespräch mit Claudia Schoppmann, 21.11.1986. Ich danke Claudia Schoppmann dafür, dass sie mir das Transkript des damals mit Freia Eisner geführten Interviews zur Verfügung gestellt hat. Eisner datiert hier das enttäuschende Wiedersehen mit Karin Boye auf den März 1933. Vgl. Schoppmann 1998, S. 167.


10 Im Mai 1933 schenkte Karin Boye Freia Eisner ihre ersten drei Gedichtbände, darunter die Sammlung Härdarna mit einer persönlichen Widmung „mit den schönsten Erinnerungen, mit den besten Wünschen, mit alter Freundschaft". Diese Bände befinden sich heute im Besitz von Ilse Kokula (Berlin).


11 Karin Boye an Erik Mesterton, 30.7.1932. Zit. nach Boye, Karin. Ett verkligt jordiskt liv. Brev. Urval och kommentarer av Paulina Helgeson. Stockholm: Albert Bonniers Förlag 2000, S. 209. Sämtliche Übersetzungen aus dem Schwedischen im vorliegenden Artikel stammen von Raimund Wolfert.


12 Karin Boye an Ebbe Linde, 20.3.1934. Zit. nach Boye 2000, S. 233.


13 Ebd.


14 Karin Boye benutzt hier im Original das Wort „blåvingetyp". „Blåvingar" waren in der schwedischen Pfadfinderbewegung Mädchen der jüngsten Altersgruppe (ca. 7-11 Jahre), die heute (wie die gleichaltrigen Jungen) geschlechtsneutral „nyingscout" genannt werden. Im deutschen Sprachraum sprach und spricht man hier von „Wichteln" (für Mädchen) und „Wölflingen" (für Jungen). In der Schweizer Pfadfinderbewegung werden heute Mädchen (früher „Bienli") und Jungen „Wölfe" genannt.


15 Karin Boye an Ebbe Linde, 3.4.1934. Zit. nach Boye 2000, S. 235-236.


16 Akademie der Künste, NL Gerda Rotermund (Mappe Rotermund 2): Gerda Rotermund an Ellen Bernkopf-Catzenstein, 13.2.1937.


17 Vgl. Margot Hanels Brief an Kungl. Socialstyrelsen vom 27.1.1935, handschriftlicher Zusatz von Karin Boye. In: Margot Hanels Dossier im Socialstyrelsens arkiv, utlännigsbyrån (FIb:52), Riksarkivet (Schwedisches Nationalarchiv), Stockholm. Ich danke Mikael Johansson für diese und andere Fotokopien der Unterlagen in Margot Hanels Dossier.


18 Margot Hanels Registerkarte im Statens utlänningskommissions kanslibyrå (DIB), Riksarkivet (Schwedisches Nationalarchiv), Stockholm.


19 Es ist nicht bekannt, wie Boye und Hanel mit Edman in Kontakt gekommen waren und in welcher Beziehung sie sonst zu ihm standen. Möglicherweise handelte es sich bei Arvid Edman um einen Fischhändler mit eigenem Geschäft auf der Straße Kungsholms Strand in Stockholm. Vgl. Stockholms Adresskalender von Ende der 1930er Jahre. Ich danke Olov Kriström (Göteborg) für die Unterstützung bei der Recherche.


20 Karin Boye an Ebbe Linde, 21.12.1934. Zit. nach Boye 2000, S. 245.


21 Vgl. Abenius 1950, S. 235.


22 Freia Eisner im Gespräch mit Claudia Schoppmann, 21.11.1986 (wie Fußnote 8). Vgl. Schoppmann 1998, S. 167.


23 Vgl. Lejdström, Kristina: Grotta Azzurra. Borås: Recito Förlag 2016.


24 Fäderneslandet vom 10.4.1926. Zit. nach Silverstolpe, Fredrik; Eman, Greger; Parikas, Dodo; Rydström, Jens und Söderström, Göran: Sympatiens hemlighetsfulla makt. Stockholms homosexuella 1860-1960. Stockholm: Stockholmia Förlag 1999, S. 513.


25 Vgl. Lejdström 2016, S. 18, 54 und 109.


26 Vgl. Wolfert, Raimund: Kein politischer Flüchtling im eigentlichen Sinn? Gerhard Lascheit (1913-1942) in Schweden, in: Lambda Nachrichten 2015 (Jg. 37), Nr. 2, S. 42-45.


27 Weiteres hierzu siehe Rydström, Jens und Mustola, Kati (Hrsg.): Criminally Queer. Homosexuality and Criminal Law in Scandinavia 1842-1999. Amsterdam: Aksant Academic Publishers 2007.


28 Vgl. Garde 2011, S. 158.


29 Karin Boye an Kjell Hjern, 15.4.1941. Zit. nach Boye 2000, S. 338.


30 Rosengren, Henrik: Fünf Musiker im Schwedischen Exil. Nazismus – Kalter Krieg – Demokratie (Musik im „Dritten Reich" und im Exil, 19). Neumünster: von Bockel Verlag 2016, S. 306.


31 Vgl. Garde 2011, S. 136.


32 Ich danke Susanne W., einer Nichte Margot Hanels, für diese wie für weitere Angaben zur Geschichte der Familie Hanel (Dezember 2016). Auch dem Internationalen Suchdienst in Arolsen (ITS) liegen keine Angaben zum Verbleib Werner Hanels vor (Januar 2017).


33 Abenius 1950, S. 201-202. Worauf die Behauptung fußt, alle Geschwister Margot Hanels hätten Anzeichen von "sexueller Inversion" gezeigt, ist unklar. Offenbar handelte es sich um eine Projektion. Zwei Geschwister Hanels waren verheiratet, und die Schwester Gerda strebte die Ehe zumindest an.


34 Ebd., S. 233.


35 Ebd., S. 234.


36 Das Gedicht findet sich in der deutschen Übertragung durch Nelly Sachs (1947) in Osdrowski, Bo und Riebe, Tom (Hrsg.): Karin Boye (Versensporn 6). Jena: Edition Poesie Schmeckt Gut 2012, S. 18.


37 Weiss, Peter: Die Ästhetik des Widerstands. Roman. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag 1983 (edition suhrkamp 1501). Dritter Band, S. 33.


38 Ebd., S. 42. Vgl. die Darstellung Hanels in Abenius 1950, S. 233.


39 Weiss 1983, S. 32.


40 Wieser, Harald: Eine Optimistin voller Angst, in: Der Spiegel (29/1984) vom 16.7.1984, S. 123-127 (Online: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13509329.html).


41 Margot Hanel an Barbro Linder-Granat, 3.5.1941. Zit. nach Garde 2013, S. 206.


42 Ebd.


43 Das Gedicht „Für Dich" ("Till dig") ist auf den 13.7.1937 datiert. Vgl. Abenius 1950, S. 303. Für die Hilfe bei der Übertragung des Gedichts ins Deutsche danke ich Geertje König (Bonn).


Zitiervorschlag:
Wolfert, Raimund: „Du, meine Verzweiflung und mein Streben". Margot Hanel (1912-1941) [online]. Berlin 2017. Available from: Online-Projekt Lesbengeschichte. Boxhammer, Ingeborg/Leidinger, Christiane. URL <https://www.lesbengeschichte.org/bio_hanel_d.html> [cited DATE].