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Lesben und Nationalsozialismus: Gedenkveranstaltungen Berlin

2013: "Verschwiegen und Vergessen – Eine Veranstaltung zum Gedenken an das Leid lesbischer Frauen im Nationalsozialismus"

2014: "Verschwiegen und Vergessen – Eine Veranstaltung zum Gedenken an das Leid lesbischer Frauen im Nationalsozialismus"

2015: Stolpersteinverlegung im Gedenken an Elli Smula (1914-1943)



Gedenkveranstaltung 2013


10. Mai 2013: "Verschwiegen und Vergessen – Eine Veranstaltung zum Gedenken an das Leid lesbischer Frauen im Nationalsozialismus"


Freitag, den 10. Mai 2013, Ort: Tiergarten, Ebertstraße, 10117 Berlin, Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen

Es sprachen:
Ilke Vehling
Prof. Dr. Corinna Tomberger
Dr. Claudia Schoppmann und Sigrid Grajek
Dr. Günter Grau

Publikum der Gedenkveranstaltung© Gabriele Mietke Publikum © Gabriele Mietke

Die Gedenkstunde wurde veranstaltet vom Spinnboden Lesbenarchiv und Bibliothek und der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft.
Es nahmen ca. 100 Besucher_innen teil.




Ilke Vehling © Spinnboden

Rede von Ilke Vehling zu "Verschwiegen und Vergessen – Eine Veranstaltung zum Gedenken an das Leid lesbischer Frauen im Nationalsozialismus" von Spinnboden Lesbenarchiv und Bibliothek und der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft am 10. Mai 2013, Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen, Berlin


Sehr geehrte Anwesende, liebe Freundinnen und Freunde,

Im Namen des Spinnboden Lesbenarchiv und Bibliothek und der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft begrüße ich Sie zu der hier an diesem Ort erstmalig stattfindenden Gedenkfeier für die lesbischen Frauen, die im Nationalsozialismus gelitten haben. Bevor die Redebeiträge beginnen, ist es meine Aufgabe – und ich tue dies gern – mich bei all denjenigen zu bedanken, die uns bei der Vorbereitung zu dieser Veranstaltung unterstützt haben. Da ist zunächst Frau Borzym zu nennen – von der Stiftung Denkmal der ermordeten Juden Europas, die uns mit Rat und Tat zur Seite stand, dann der LSVD Berlin Brandenburg, der uns freundlicherweise seine Tonanlage zur Verfügung stellte. Außerdem erwähnen möchte ich das Likörchenkollektiv Tante Horst, dessen Spende uns den Kauf eines schöneren Kranzes bescherte.

Corinne Douarre © Spinnboden

Schließlich darf ich mich bei den beiden Künstlerinnen bedanken, die ohne zu zögern ihre Unterstützung zusagten: da ist zum einen die Sängerin Corinne Douarre, die mit ihrer Musik die Feier begleitet,


Sigrid Grajek © Gabriele Mietke

und zum anderen die Schauspielerin Sigrid Grajek, die zusammen mit Claudia Schoppmann vorträgt.




Als Letztes – und das liegt mir persönlich sehr am Herzen – möchte ich mich bei Corinna Tomberger, Claudia Schoppmann und Günter Grau bedanken – und das nicht nur, weil sie die Reden vorbereitet haben und gleich auch vortragen werden, sondern auch deshalb, weil sie bereits im Vorfeld beteiligt waren, nicht müde wurden zu diskutieren und damit auch dafür sorgten, dass wir heute endlich eine Gedenkfeier für die lesbischen Frauen veranstalten können. Ebenfalls nicht unerwähnt bleiben soll, dass Corinna Tomberger für die Verfassungsrichterin Susanne Baer eingesprungen ist, die kurzfristig ihre Zusage aus terminlichen Gründen zurückziehen musste. Susanne Baer tat dies sehr leid, denn sie wäre gerne dabei gewesen, und so lässt sie immerhin ihre Grüße ausrichten.

Mir bleibt nun nichts weiter übrig, als die Redebeiträge zu benennen: Corinna Tomberger wird beginnen und über Verfolgung, Repression und Gedenken sprechen, danach folgen Claudia Schoppmann und Sigrid Grajek. Sie werden uns an einzelne Frauen erinnern, die damals gelebt haben. Abschließend kommt Günter Grau zu Wort – als Vertreter der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft.
Zum Ende wird noch einmal die Musik einsetzen. Dann haben wir die Möglichkeit, vor dem Denkmal Blumen abzulegen. Aber nun überlasse ich Corinna Tomberger den Platz und das Mikrophon.
Vielen Dank.


Ilke Vehling




Zitiervorschlag:
Vehling, Ilke: Rede zu "Verschwiegen und Vergessen – Eine Veranstaltung zum Gedenken an das Leid lesbischer Frauen im Nationalsozialismus" von Spinnboden Lesbenarchiv und Bibliothek und der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft am 10. Mai 2013, Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen, Berlin., [online] Availiable from: Online-Projekt Lesbengeschichte. Boxhammer, Ingeborg/Leidinger, Christiane. URL: <https://www.lesbengeschichte.org/ns_gedenkveranstaltungen_d.html> [cited date].

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Gedenkkraenze © Spinnboden

Rede von Prof. Dr. Corinna Tomberger zu "Verschwiegen und Vergessen – Eine Veranstaltung zum Gedenken an das Leid lesbischer Frauen im Nationalsozialismus" von Spinnboden Lesbenarchiv und Bibliothek und der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft am 10. Mai 2013, Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen, Berlin


Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Anwesende,

wir sind heute zusammengekommen, um dem Leid lesbischer Frauen im Nationalsozialismus zu gedenken. Wir erinnern damit an die Schicksale von Frauen, die im öffentlichen Gedenken bislang ausgeblendet wurden.

Dem Leid lesbischer Frauen im Nationalsozialismus zu gedenken, das bedeutet ein Gedenken mit vielen unbekannten Größen. Unbekannt ist die Zahl von Frauen, die die Polizei aufgrund lesbischer Handlungen inhaftierte, verhörte, schikanierte. Unbekannt ist auch, wie viele lesbische Frauen aufgrund homosexueller Neigungen zwangsweise in psychiatrische Anstalten oder Fürsorgeeinrichtungen eingewiesen wurden. Bislang sind lediglich Einzelfälle bekannt. Wie sie zeigen, ist die strafrechtliche Situation nur bedingt aussagekräftig. Zwar waren homosexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Frauen außer im annektierten Österreich nicht strafbar. Doch Gestapo und Kriminalpolizei hielten sich nicht notwendigerweise an die Gesetzeslage – wie wir heute noch genauer erfahren werden. Auch gab es Gerichtsurteile wegen anderer Delikte, die "lesbische Neigungen" strafverschärfend bewerteten. Wir wissen nicht, wie viele Frauen aufgrund lesbischer Handlungen oder Neigungen polizeilich verfolgt oder gerichtlich belangt wurden. Womöglich handelt es sich um eine relativ kleine Anzahl. Gleichwohl lässt sich mit Bestimmtheit sagen: Es hat sie gegeben.

Wie sind diese Verfolgungshandlungen zu bewerten? Was bedeuteten sie für diejenigen lesbischen Frauen, die keine individuelle Verfolgung erlitten? "Der Begriff der Verfolgung", so der Historiker Jens Dobler, "[darf] nicht an der Quantität oder der Qualität der Verfolgungshandlung festgemacht werden […]. Sonst müssen wir beginnen die Toten, Inhaftierten, Geschlagenen oder in den Suizid Getriebenen gegenseitig aufzurechnen."1 Verfolgung lasse sich sinnvoller und zielgerichteter am Zweck festmachen. Im Falle lesbischer Frauen habe der Verfolgungszweck in "Unterbindung, Unterdrückung und Einschüchterung" bestanden. Das hieß, laut Dobler, "bestrafe wenige, meine alle." Die Androhung von Verfolgung, so lässt sich daraus schließen, zielte auf lesbische Frauen insgesamt ab, auch wenn die Verfolgungspraxis nur wenige traf.

Einen deutlich größeren Kreis lesbischer Frauen traf die nationalsozialistische Zerschlagung homosexueller Infrastruktur. Der blühenden homosexuellen Kultur in den Großstädten setzten die Nationalsozialisten gewaltsam ein Ende. Das NS-Regime zerstörte jene Freiräume, die sich frauenliebende Frauen in der Weimarer Republik erkämpft hatten. Der "Bund für Menschenrecht", die "erste homosexuelle Massenorganisation"2, musste die Arbeit einstellen. Die "Damengruppe" des Vereins hatte wöchentliche Beratungssprechstunden und Kulturveranstaltungen exklusiv für Frauen angeboten. Im März 1933 plünderten die Nationalsozialisten das Potsdamer Verlagshaus des Vereins. Seine Veröffentlichungen konnten nicht mehr erscheinen, darunter die populärste Lesbenzeitschrift der Weimarer Republik, "Die Freundin". Die "Halbmonatsschrift für Aufklärung über die ideale Frauenfreundschaft" erschien letztmalig am 8. März 1933.3

Zwei Monate später, am 6. Mai 1933, plünderten Anhänger der Nationalsozialisten das Institut für Sexualwissenschaft. Das Institut des jüdischen Mediziners und Sexualforschers Magnus Hirschfeld war als psychosexuelle Beratungsstelle und Treffpunkt für Lesben, Schwule und Transvestiten bekannt. Darüber hinaus beherbergte es die weltweit größte sexualwissenschaftliche Bibliothek. Wenige Tage nach der Plünderung, am 10. Mai 1933, heute vor 80 Jahren, verbrannten Studenten Schriften aus Hirschfelds Institut bei der Bücherverbrennung auf dem Opernplatz. Auch Werke lesbischer Autorinnen wurden 1933 verboten. Darunter die Schriften von Johanna Elberskirchen, einer lesbischen Ärztin, Feministin und Sexualreformerin, die in Rüdersdorf bei Berlin lebte.

Mit der Schließung so genannter "Freundschaftslokale" richtete sich die nationalsozialistische Repression auch gegen die Treffpunkte von Lesben und Schwulen. Bereits zum Jahresende 1932 erhielten mehrere Berliner Homosexuellen-Lokale keine neuen Tanzgenehmigungen. Im Februar 1933 folgte ein Erlass für weitere Zwangsmaßnahmen. Gaststätten waren nun zu schließen, wenn sie "zur Förderung der Unzucht mißbraucht"4 würden. Anfang März 1933 ließ der Berliner Polizeipräsident auf der Grundlage dieses "Sittlichkeits-Erlasses" 14 homosexuelle Lokale schließen. Darunter der lesbische Treffpunkt "Mali und Igel" und die "Zauberflöte", in der Damenklubs regelmäßig Tanzabende veranstaltet hatten.5

Um die Bedeutung dieser Angebote zu ermessen, müssen wir uns vor Augen führen, dass sie für viele lesbische Frauen neben Zeitschriftenannoncen die einzige Möglichkeit boten, Gleichgesinnte zu treffen. Anders als für schwule Männer mit ihrer Klappenkultur gab es für lesbische Frauen keine etablierten Treffpunkte im öffentlichen Raum, die eine Kontaktaufnahme mit Gleichgesinnten erlaubten. Die Möglichkeit, eine lesbische Lebensweise zu entfalten, beschränkte sich nun weitgehend auf das Privatleben. "Das lesbische Leben spielte sich praktisch nur in der Partnerschaft ab"6, erinnerte sich die kommunistische Aktivistin Hilde Radusch an diese Zeit. Vereinzelung war die Folge. "Eine kollektive Lebensform und Identität", so hat es Claudia Schoppmann resümiert, "war mit der Machtübernahme zerstört worden"7.

Zwar konnten einige Damenklubs ihre Angebote auch nach 1933 fortsetzen. Sie standen dann aber nicht selten unter polizeilicher Beobachtung. So tarnte sich der Berliner "Damenklub Violetta" als "Sportclub Sonne". Im Juli 1935 führte die Kriminalpolizei bei einem seiner Tanzabende eine Razzia durch. 54 Frauen wurden namentlich erfasst. Über die Folgen der polizeilichen Registrierung lässt sich nur spekulieren. Auch wenn einer Razzia keine Festnahmen oder Haftstrafen folgten, fühlten sich die Betroffenen bedroht und fürchteten weitere Repressionen. Wie wir heute wissen, konnten sich die Befürworter einer strafrechtlichen Verfolgung weiblicher Homosexualität im NS-Regime nicht durchsetzen. Damals war für lesbische Frauen jedoch keineswegs absehbar, ob Verschärfungen drohten. Manche brachen lesbische Kontakte oder Beziehungen aus Angst ab, andere gingen Tarnehen ein. "Schwule und Lesben lebten in der NS-Zeit eingeschüchtert und unter dem steten Zwang zu Tarnung" - so ist es auf der Widmungstafel des Denkmals, an dem wir uns befinden, zu lesen.

Für unser Gedenken haben wir uns am Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen versammelt. Die meisten von Ihnen wissen: Es war und ist ein durchaus umstrittener Gedenkort. Umstritten ist, wer als eigentliche Widmungsgruppe des Denkmals zu gelten hat und wer ein Anrecht darauf hat, durch das Denkmal - auch visuell - repräsentiert zu werden. Dieser Streit ist auch für unser Gedenken bedeutsam. Bedeutsam insofern, als er beispielhaft verdeutlicht, was das Gedenken an das Leid lesbischer Frauen im Nationalsozialismus bis heute erschwert: Die Situation lesbischer Frauen wird regelhaft an der schwuler Männer gemessen und in diesem Vergleich als nachrangig bewertet. Dass von einer Verfolgung lesbischer Frauen gesprochen werden kann, darüber besteht keineswegs Einigkeit.

Inwieweit dieses Denkmal auch lesbischen Frauen im Nationalsozialismus gewidmet sein soll, haben die Denkmalsetzer nicht präzisiert. "Die verfolgten und ermordeten Opfer ehren", "die Erinnerung an das Unrecht wach halten"8 - ob diese Passagen der Widmung sich auf Schwule und Lesben beziehen, dazu gibt es unterschiedliche Meinungen. Es sei "nicht ein einziger Fall einer lesbischen Frau historisch zu belegen, die aufgrund ihrer homosexuellen Veranlagung in die Verfolgungsmaschinerie der Nationalsozialisten geraten wäre"9 – so argumentierte 2010 ein offener Brief mit prominenten Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern. Das Schreiben wandte sich dagegen, in diesem Denkmal künftig einen Film mit einer Kussszene lesbischer Frauen zu zeigen. Seit Januar 2013 gibt es einen solchen Film dennoch. Die Auseinandersetzung hingegen ist damit keineswegs beigelegt. Eine Neuauflage erlebte sie vor Kurzem bei dem Bemühen um eine Gedenktafel für die lesbischen Frauen aller Haftgruppen im KZ Ravensbrück. Die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten lehnte dieses Anliegen ab. Sie begründete diese Entscheidung mit der "Befürchtung […], aus der bloßen Existenz der Gedenktafel [könnte] auf eine polizeiliche Verfolgungsgeschichte von lesbischen Frauen im System der Konzentrationslager zurückgeschlossen werden"10.

Dass lesbische Frauen nicht dieselbe Verfolgungsgeschichte aufweisen wie schwule Männer, gilt auch bei diesem Denkmal vielen als Grund, sie als Widmungsgruppe zweiter Klasse anzusehen. Dabei handelt es sich um ein Denkmal an verfolgte Homosexuelle – die Widmungsgruppe wird nicht durch spezielle Verfolgungsgründe definiert, sondern durch sexuelle Präferenzen oder Identitäten. Das Denkmal sollte also auch einer Charlotte Wolff gewidmet sein. Die lesbische Ärztin und Sexualwissenschaftlerin wurde im Februar 1933 von der Gestapo verhaftet. Die Beschuldigung lautete: Sie sei "eine Frau in Männerkleidung und eine Spionin"11. Wenige Monate später floh Wolff aus Deutschland. Wenn wir ihrer Autobiografie folgen, sah sie sich insbesondere als Jüdin von den Nationalsozialisten bedroht. Ihr Beispiel veranschaulicht, dass die Gruppe der verfolgten Homosexuellen vielfältiger ist, als es der bisherige Fokus auf wegen Homosexualität verfolgte, schwule Männer glauben macht.

Vor diesem Hintergrund ist unser Gedenken heute auch ein Akt der Aneignung. Der Aneignung eines Denkmals, das aus lesbischer Perspektive durchaus als ambivalenter Ort erscheint. Anfänglich, in den frühen 1990er Jahren, setzten sich die Denkmalinitiatoren für ein Schwulendenkmal ein. Es wurde schließlich, aus meiner Sicht halbherzig, ein Homosexuellen-Denkmal - nicht zuletzt aus Gründen der politischen Durchsetzbarkeit. Man könnte auch sagen: als Zugeständnis an eine heteronormative Gesellschaft. Ich bin mir nach wie vor nicht sicher, ob das lesbischen Frauen zum Vorteil gereicht hat. Indes besteht ein Denkmal nicht allein aus den Zeichen, die es setzt, und den Absichten der Denkmalsetzer. Seine Bedeutung bestimmen auch die Rituale, die Praktiken, mit denen Gedenkende es verbinden. Dass wir uns heute hier versammeln, können wir auch als eine Neuinterpretation des Denkmals verstehen. Als eine Erweiterung der bislang eher eng gefassten Widmungsgruppe. Umso mehr freue ich mich über Ihr heutiges Kommen, um gemeinsam an das Leid lesbischer Frauen im Nationalsozialismus zu erinnern.


Corinna Tomberger


Zitiervorschlag:
Tomberger, Corinna: Rede zu "Verschwiegen und Vergessen – Eine Veranstaltung zum Gedenken an das Leid lesbischer Frauen im Nationalsozialismus" von Spinnboden Lesbenarchiv und Bibliothek und der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft am 10. Mai 2013, Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen, Berlin, [online] Availiable from: Online-Projekt Lesbengeschichte. Boxhammer, Ingeborg/Leidinger, Christiane. URL: <https://www.lesbengeschichte.org/ns_gedenkveranstaltungen_d.html> [cited date].

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1 Dobler, Jens: Unzucht und Kuppelei. Lesbenverfolgung im Nationalsozialismus, in: Insa Eschebach (Hg.), Homophobie und Devianz. Weibliche und männliche Homosexualität im Nationalsozialismus, S. 53-62, hier wie auch für die nachfolgenden Zitate S. 61.
2 Dobler, Jens: Von anderen Ufern. Geschichte der Berliner Lesben und Schwulen in Kreuzberg und Friedrichshain. Berlin 2003, S. 73.
3 Vgl. Vogel, Katharina: Zum Selbstverständnis lesbischer Frauen in der Weimarer Republik. Eine Analyse der Zeitschrift "Die Freundin" 1924-1933, in: Verein der Freunde eines Schwulen-Museums in Berlin e.V. (Hg.), Eldorado. Homosexuelle Frauen und Männer in Berlin 1850 - 1950. Geschichte, Alltag und Kultur, 2. Auflage, Berlin 1992, S. 162-168, hier S. 162.
4 Zit. nach Dobler: Von anderen Ufern, Berlin 2003, S. 179.
5 Vgl. Dobler: Von anderen Ufern, Berlin 2003, S. 112 ff, 179.
6 Schoppmann, Claudia: Hilde Radusch (1903-1994) [online]. Berlin 2005. Unter: Online-Projekt Lesbengeschichte. Boxhammer, Ingeborg/Leidinger, Christiane. https://www.lesbengeschichte.org/bio_radusch_d.html [9.5.13]. Gedruckte Ausgabe: Schoppmann, Claudia: Zeit der Maskierung. Lebensgeschichten lesbischer Frauen im "Dritten Reich". Berlin 1993.
7 Schoppmann, Claudia: Zur Situation lesbischer Frauen in der NS-Zeit, in: Günter Grau (Hg.), Homosexualität in der NS-Zeit. Dokumente einer Diskriminierung und Verfolgung, Frankfurt am Main 2004, S. 35-42, hier S. 40.
8 Vgl. den Antrag an den Deutschen Bundestag vom 1.7.03, angenommen am 12.12.03, unter http://www.gedenkort.de/hin-bt03-antrag.htm [12.5.13]. Auch die Widmungstafel am Denkmal gibt diese Formulierung wieder.
9 Offener Brief des Vereins zur Erforschung der Geschichte der Homosexuellen in Niedersachsen e.V. vom 18.3.10 unter http://www.homo-denkmal.lsvd.de/files/Offener%20Brief%20-%20Staatsminister%20Neumann%20100318.pdf [12.5.13].
10 E-Mail von Günter Morsch, Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, vom 27.12.12 an Vertreter_innen von LSVD, Spinnboden Lesbenarchiv und Bibliothek, UM queer, die sich für die genannte Gedenktafel eingesetzt haben.
11 Wolff, Charlotte: Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit, Pfungstadt 2003, S. 127.





Sigrid Grajek und Claudia Schoppmann, v.l.n.r. © Spinnboden

Text von Dr. Claudia Schoppmann zu "Verschwiegen und Vergessen – Eine Veranstaltung zum Gedenken an das Leid lesbischer Frauen im Nationalsozialismus" von Spinnboden Lesbenarchiv und Bibliothek und der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft am 10. Mai 2013, Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen, Berlin

Gelesen von Claudia Schoppmann (CS) und Sigrid Grajek (SG):


Claudia Schoppmann © privat Sigrid Grajek © Gabriele Mietke

CS:
Wir stehen heute hier, um der lesbischen Frauen zu gedenken, die im ‚Dritten Reich' verfolgt wurden und gelitten haben. Weil ihre Liebe oder ihr Begehren dem eigenen Geschlecht galt. Oder weil ihnen dies nachgesagt wurde.
Wir erinnern an jene Frauen, die von Nachbarinnen oder Kollegen denunziert, von der Polizei drangsaliert und von Richtern bestraft wurden. Und die in psychiatrischen Anstalten, Fürsorgeheimen, Haftanstalten oder Konzentrationslagern eingesperrt wurden.

Wir erinnern an die Fabrikarbeiterinnen Hildegard Wiederhöft und Helene Treike aus Berlin.


SG:
Hildegard Wiederhöft, geboren 1909, und ihre 3 Jahre ältere Freundin Helene Treike wurden 1940 von einer Nachbarin denunziert. Sie gab an, verdächtige Geräusche aus der Nebenwohnung gehört zu haben. Das Zusammenleben der Frauen entspreche nicht dem "gesunden Volksempfinden". Hildegard Wiederhöft und Helene Treike wurden von der Gestapo gezwungen, auseinander zu ziehen und den Kontakt abzubrechen. Helene Treike, die sich zu ihren lesbischen Beziehungen bekannt hatte, wurde von der Gestapo unter Beobachtung gestellt.

CS:
Wir erinnern an die Krankenschwester Frieda Kähler aus Hamburg.

SG:
Frieda Kähler, geboren 1900, wurde 1936 von einem Arzt denunziert. Sie gab zu, ein Verhältnis mit zwei Patientinnen gehabt zu haben. Im Mai 1937 wurde sie vom Landgericht Hamburg nach §174 zu 9 Monaten verurteilt. "Unzucht mit Abhängigen" nannten das die Richter. Frieda Kählers Gnadengesuch wurde abgelehnt. Sie verbüßte ihre Haftstrafe im Gefängnis Fuhlsbüttel. Danach durfte sie 5 Jahre lang ihren Beruf nicht ausüben. Ihre wirtschaftliche Existenz war ruiniert.

CS:
Wir gedenken der Arbeiterin Elly Smula aus Berlin.

SG:
Elly Smula, geboren 1914, wurde bei der Straßenbahn dienstverpflichtet. Durch ihren Arbeitgeber, die Berliner Verkehrsbetriebe, angezeigt, wurde sie am 12. September 1940 verhaftet und von der Gestapo verhört. Man warf ihr vor, mit ihren Kolleginnen auf nächtlichen Parties Sex gehabt und am nächsten Tag nicht ihren Dienst versehen zu haben. Am 30. November 1940 wurde sie ins Konzentrationslager Ravensbrück deportiert. Als Haftgrund war "politisch" mit dem Zusatz "lesbisch" vermerkt. Am 8. Juli 1943 starb sie in Ravensbrück. "Ganz plötzlich", wie ihre Mutter nach dem Krieg schrieb.

CS:
Wir erinnern an Inge Scheuer, Fotolehrling aus Angermünde.

SG:
Inge Scheuer, geboren 1924, wurde 1943 zum Heeresdienst als Marinehelferin verpflichtet. Wegen eines Verhältnisses mit einer Kameradin wurde sie entlassen und vom Gesundheitsamt Angermünde im März 1944 wegen ihrer "gleichgeschlechtlichen Veranlagung" in die psychiatrische Landesanstalt Brandenburg-Görden eingewiesen. Um zu prüfen, ob eine Unterbringung im sogenannten "Jugendschutzlager" für Mädchen notwendig sei, das zum Lagerkomplex Ravensbrück gehörte. Nach 6 Wochen wurde sie nach Hause entlassen. Sie überlebte die Kriegszeit.

CS:
Wir erinnern an Marie Glawitsch aus Österreich.

SG:
Marie Glawitsch, geboren 1920 in Graz, wurde im September 1939 wegen Diebstahls und nach §129 zu 6 Monaten verurteilt. §129 des österreichischen Strafgesetzbuches bestrafte gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen. Oder wie es im Juristendeutsch hieß: "Unzucht mit einer Person desselben Geschlechts". Weitere Haftstrafen wegen Diebstahls folgten. Am 31. Oktober 1942 wurde die 22-Jährige ins Frauen-KZ Ravensbrück eingewiesen und als sogenannte "Berufsverbrecherin", d.h. als "Kriminelle" gekennzeichnet. Marie Glawitsch starb 1966. Im Alter von 46 Jahren.

CS:
Wir erinnern an die Arbeiterin Erna Kubbe aus Berlin.

SG:
Erna Kubbe, geboren 1887, wurde am 24. Januar 1938 verhaftet, weil sie "öffentlich Männerkleidung" trug, obwohl ihr eine hierzu erteilte Genehmigung 1933 entzogen worden war. So stand es im "Schutzhaftbefehl" der Gestapo. Sie wurde ins Frauen-Konzentrationslager Lichtenburg in Sachsen-Anhalt verbracht. Nach 10 Monaten, im Oktober 1938, wurde sie entlassen.

CS:
Wir gedenken der jüdischen Verkäuferin Mary Pünjer aus Hamburg.

SG:
Mary Pünjer, geboren 1904 als Mary Kümmermann, arbeitete im elterlichen Geschäft für Damenkonfektion in Wandsbek. Am 24. Juli 1940 wurde sie festgenommen, vermutlich bei einer Razzia in einem einschlägigen Lokal. Fast 3 Monate verbrachte sie im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel. Am 12. Oktober 1940 wurde sie ins KZ Ravensbrück eingeliefert. Als Haftgrund war "asozial" mit dem Zusatz "lesbisch" vermerkt. Im Tötungstrakt der "Heil- und Pflegeanstalt" Bernburg bei Dessau wurde sie mit Gas ermordet. Vermutlich im Frühjahr 1942.

CS:
Wir erinnern an die kaufmännische Angestellte und Lesbenaktivistin Elsa Conrad.

SG:
Elsa Conrad, geboren 1887 als Elsa Rosenberg, führte unter anderen den mondänen Damenklub "Mali und Igel". Im März 1933 wurde auch dieses Lokal geschlossen. Im Herbst 1935 wurde Elsa Conrad, die nach den "Rassengesetzen" als "Mischling" galt, denunziert. Sie habe sich als "Arierin" ausgegeben, habe "Verhältnisse zu lesbisch veranlagten Frauen" unterhalten und sich abfällig über Hitler geäußert. Wegen "staatsfeindlicher Äußerungen" wurde sie vom Sondergericht Berlin zu 15 Monaten Haft verurteilt. Sie verbüßte sie in den Frauengefängnissen Kantstraße und Barnimstraße in Berlin. Am 14. Januar 1937 überstellte die Gestapo sie ins Frauen-KZ Moringen. Im Februar 1938 aus Moringen entlassen, konnte sie nach Ostafrika fliehen. Sie starb 1963 in Hanau.

CS:
Wir erinnern an die Arbeiterin Elisabeth Rinck aus Hamburg.

SG:
Elisabeth Rinck, geboren 1923 als Elisabeth Knur, war von 1940 bis 1942 in verschiedenen Erziehungsheimen untergebracht. Im Juni 1944 wurde sie vom Amtsgericht Hamburg zu 15 Monaten Haft wegen Diebstahls verurteilt, die sie in der Strafanstalt Bützow in Mecklenburg verbüßte. In einem Fürsorgebericht wurde sie als "arbeitsscheu, stark verwahrlost und lesbischen Umgang pflegend" beschrieben. Das Amtsgericht Hamburg leitete außerdem ein Entmündigungsverfahren wegen angeblicher "Geistesschwäche" gegen sie ein. So konnte sie nach Haftverbüßung zur "Arbeitserziehung und Disziplinierung" in die Anstalt Farmsen eingewiesen werden. Erst 1964 wurde die Entmündigung vom Amtsgericht aufgehoben.

CS:
Unbekannt ist bis heute, wie vielen Frauen Unrecht angetan wurde, weil sie gegen die Sexualnormen des Regimes verstoßen haben. Auch wenn sie nicht im selben Ausmaß und auf ähnliche Weise verfolgt wurden wie homosexuelle Männer: 68 Jahre nach Kriegsende – und 5 Jahre nach der Einweihung dieses Denkmals - ist es höchste Zeit, an die "vergessenen" lesbischen Opfer zu erinnern und ihrem Leid öffentlich zu gedenken.

Zitiervorschlag:
Schoppmann, Claudia: Text zu "Verschwiegen und Vergessen – Eine Veranstaltung zum Gedenken an das Leid lesbischer Frauen im Nationalsozialismus" von Spinnboden Lesbenarchiv und Bibliothek und der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft am 10. Mai 2013, Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen, Berlin., [online] Availiable from: Online-Projekt Lesbengeschichte. Boxhammer, Ingeborg/Leidinger, Christiane. URL: <https://www.lesbengeschichte.org/ns_gedenkveranstaltungen_d.html> [cited date].

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Günter Grau © Spinnboden

Rede von Dr. Günter Grau zu "Verschwiegen und Vergessen – Eine Veranstaltung zum Gedenken an das Leid lesbischer Frauen im Nationalsozialismus" von Spinnboden Lesbenarchiv und Bibliothek und der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft am 10. Mai 2013, Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen, Berlin


Wider das Verschweigen

Der Ort, an dem wir uns versammelt haben, soll "die verfolgten und ermordeten Opfer ehren, die Erinnerung an das Unrecht wach halten und ein beständiges Zeichen gegen Intoleranz, Feindseligkeit und Ausgrenzung gegenüber Schwulen und Lesben setzen". So steht es im Beschluss des Deutschen Bundestages von 2003 und so steht es auch auf der Widmungstafel wenige Meter von hier entfernt.

Und seit der Einweihung des Denkmals im Jahr 2008 wird hier erinnert an Unrecht. Allerdings nur an all das Unrecht, das Männer erlitten haben, die unter dem Nazi-Regime wegen homosexueller Handlungen strafrechtlich verfolgt und verurteilt wurden bis hin zur Ermordung Tausender in den Konzentrationslagern. Nicht eine Veranstaltung hat es in den zurückliegenden sechs Jahren gegeben, die dem Gedenken an das Leid lesbischer Frauen gewidmet war – ihrer Ausgrenzung, ihrer Unterdrückung und ihrer Entwürdigung im so genannten Dritten Reich. Bei der Unterlassung handelt es sich nicht etwa um ein Versehen. Nein, es war Absicht. Diese ist durchaus belegbar, belegbar durch einen erbittert geführten Streit. Er dauert bis heute an und sein erklärtes Ziel ist, diesen Ort exklusiv zur Erinnerung an das Leid einschlägig verurteilter Männer zu reservieren. Die Rechtfertigung dafür wird gleich mitgeliefert. Sie lautet: Nur sie seien – im Unterschied zu lesbischen Frauen – strafrechtlich verfolgt worden, ihre Situation dadurch – und ebenfalls im Unterschied zu der der Lesben – zweifelsfrei zu dokumentieren.

Die Betonung der Unterschiede in der strafrechtlichen Situation ist richtig. Falsch jedoch ist die daraus gezogene Schlussfolgerung, lesbische Frauen hätten unter dem NS-System nicht gelitten. Oder anders ausgedrückt: Die Fixierung auf die strafrechtliche Verfolgung und auf das Dokumentierte greift zu kurz, weil sie dazu führt, andere Formen von Unrecht zu ignorieren. Corinna Tomberger hat die wichtigsten genannt, Claudia Schoppmann und Sigrid Grajek haben uns exemplarisch an Einzelschicksalen die Auswirkungen vor Augen geführt. Summarisch zusammengefasst, lautet die Schlussfolgerung: Lesbische Frauen haben unter dem NS-Regime, unter seiner antihomosexuellen Propaganda und der Drohung mit dem KZ gelitten, nur – so hat es einmal Rüdiger Lautmann formuliert – "anders als die homosexuellen Männer und in weniger hervorstechender Weise".

In der Erinnerungskultur sollten wir uns vor einer Hierarchisierung der Opfer, vor dem Gegeneinander-Aufrechnen von Leid hüten, um eine Instrumentalisierung von Erinnerungs- und Gedenkpolitik zu vermeiden. Mit dem Ausschluss von Opfergruppen aus der Gedenkarbeit an diesem Ort – und das betrifft nicht nur die Opfergruppe der lesbischen Frauen, sondern auch das Schicksal transsexueller und transidenter Menschen im Nationalsozialismus – würde dieses Mahnmal, das dem Gedenken an Unrecht dienen soll, zu einem Ort von Unrecht.

Die Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft – für die ich die Ehre habe, hier sprechen zu dürfen – sieht, ganz im Sinn ihres Namenpatrons, eine wichtige Aufgabe ihrer politischen Arbeit darin, sich für Emanzipation über alle Geschlechtergrenzen hinweg zu engagieren. Aus diesem Selbstverständnis heraus möchte ich Sie an diesem Denkmal mahnen, niemanden zu vergessen, dem unter dem Terrorregime Leid widerfahren ist, Unrechtslogiken zu entlarven und sich für ein unveräußerliches Gut unserer Gesellschaft einzusetzen: für Gerechtigkeit.


Günter Grau


Zitiervorschlag:
Grau, Günter: Rede zu "Verschwiegen und Vergessen – Eine Veranstaltung zum Gedenken an das Leid lesbischer Frauen im Nationalsozialismus" von Spinnboden Lesbenarchiv und Bibliothek und der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft am 10. Mai 2013, Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen, Berlin., [online] Availiable from: Online-Projekt Lesbengeschichte. Boxhammer, Ingeborg/Leidinger, Christiane. URL: <https://www.lesbengeschichte.org/ns_gedenkveranstaltungen_d.html> [cited date].

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Gedenkkranz © SpinnbodenGedenkkränze © Spinnboden



Gedenkveranstaltung 2014


7. Mai 2014: Gedenkfeier "Verschwiegen und Vergessen: Schicksale und Lebenswege lesbischer Frauen im Nationalsozialismus"


Am 7. Mai 2014 veranstaltete Spinnboden Lesbenarchiv und Bibliothek, nunmehr zum zweiten Mal, gemeinsam mit der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft am Homosexuellen-Denkmal im Berliner Bezirk Tiergarten eine Gedenkfeier, die an Schicksale und Lebenswege lesbischer Frauen im Nationalsozialismus erinnerte.
Musikalisch begleitet wurde die Veranstaltung von Corinne Douarre.

Es sprachen:
Dr. Günter Grau
Prof. Dr. Corinna Tomberger
Dr. Claudia Schoppmann und Sigrid Grajek
Prof. Dr. Sabine Hark




Rede von Dr. Günter Grau zu "Verschwiegen und Vergessen – Eine Veranstaltung zum Gedenken an das Leid lesbischer Frauen im Nationalsozialismus" von Spinnboden Lesbenarchiv und Bibliothek und der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft am 7. Mai 2014, Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen, Berlin

Meine Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,
am vergangenen Sonntag wurde in Fürstenberg an der Havel der Befreiung des KZ Ravensbrück gedacht. Im größten Frauen-Lager der Nazis haben mehr als 130.000 Frauen gelitten. Allein den Gastod starben 6.000 Frauen, die Gesamtzahl der Toten soll über 20.000 betragen haben. In den offiziellen Reden wurden – wie bereits in den vergangenen Jahren – lesbische Frauen nicht erwähnt. Damit hat der Veranstalter, wenn auch ungewollt, das Motto dieser Gedenkstunde bestätigt: "Verschwiegen und Vergessen". Könnte frau die Verantwortlichen nach dem Grund befragen, würde die Antwort lauten: Strafrechtlich wurden lesbische Frauen unter dem Terrorregime nicht verfolgt. Das ist richtig, Falsch ist allerdings die daraus gezogene Schlussfolgerung, sie hätten unter dem NS-Regime nicht gelitten.

Ihr Leid fand unterschiedlichen Ausdruck. Immer jedoch war es ein ganz persönliches Leid. Es ist die Auseinandersetzung mit menschlichen Schicksalen unter der NS-Diktatur, die uns ins Bewusstsein ruft, dass Grundrechte und Menschenwürde kostbar sind. Zugleich erwächst uns aus dieser Gewissheit die Verantwortung, gegen jede Form von Ausgrenzung und Intoleranz vorzugehen, sie nicht zuzulassen.

Wir erfahren in dieser Gedenkstunde etwas über Schicksale und Lebenswege lesbischer Frauen im Nationalsozialismus. Die Veranstalter, Spinnboden-Lesbenarchiv und die Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft – in deren Namen ich Sie begrüßen darf – haben dafür als Rednerinnen gewinnen können: Corinna Tomberger, Claudia Schoppmann, Sigrid Grajek und Sabine Hark. Die musikalische Begleitung hat, wie bereits im vergangenen Jahr, liebenswürdiger Weise Corinne Douarre übernommen.

Am Schluss der Gedenkstunde können Blumen niedergelegt werden.

Günter Grau

Zitiervorschlag:
Grau, Günter: Rede zu "Verschwiegen und Vergessen – Eine Veranstaltung zum Gedenken an das Leid lesbischer Frauen im Nationalsozialismus" von Spinnboden Lesbenarchiv und Bibliothek und der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft am 7. Mai 2014, Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen, Berlin., [online] Availiable from: Online-Projekt Lesbengeschichte. Boxhammer, Ingeborg/Leidinger, Christiane. URL: <https://www.lesbengeschichte.org/ns_gedenkveranstaltungen_d.html> [cited date].




Rede von Prof. Dr. Corinna Tomberger zu "Verschwiegen und Vergessen – Eine Veranstaltung zum Gedenken an das Leid lesbischer Frauen im Nationalsozialismus" von Spinnboden Lesbenarchiv und Bibliothek und der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft am 7. Mai 2014, Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen, Berlin

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Anwesende,

wir sind hier zusammengekommen, um an Schicksale und Lebenswege lesbischer Frauen im Nationalsozialismus zu erinnern. Woran und an wen wollen wir erinnern?
Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten, da die antihomosexuelle Politik des NS-Regimes nur mittelbar auf die Folgen für lesbische Frauen schließen lässt. Denn die Repressionen gegen weibliche Homosexualität richteten sich vorrangig gegen die homosexuelle Kultur und deren Infrastruktur. Sie wurden begleitet von der Propagierung rigider Geschlechternormen. Demgegenüber waren vermutlich weitaus weniger frauenliebende Frauen individueller Verfolgungspraxis ausgesetzt. Von Frauen, die aufgrund lesbischer Handlungen von der Polizei inhaftiert, verhört und schikaniert wurden, war bei der ersten Gedenkveranstaltung für lesbische Frauen an dieser Stelle vor einem Jahr zu hören. Ebenso von Frauen, die in psychiatrische Einrichtungen oder Fürsorgeanstalten eingewiesen wurden.

Dieses Jahr widmet sich die Gedenkveranstaltung der Frage, wie frauenliebende Frauen im Nationalsozialismus sozial überleben konnten, also welche Möglichkeiten sie fanden, lesbisch zu leben in einem repressiven Staat, der Homosexualität zu unterbinden suchte. Um zu erkunden, wie sich die strukturelle Repression des NS-Regimes auf individuelle Lebenswege auswirkte, sind wir auf biografische Geschichten angewiesen. Leider sind nach wie vor nur wenige bekannt. Dennoch ermöglicht die historische Forschung einzuschätzen, welche Bedeutung die homosexuelle Kultur der 1920er Jahre für das Selbstverständnis und die Lebensgestaltung lesbischer Frauen hatte. Dadurch können wir ermessen, welche Tragweite die nationalsozialistische Zerstörung dieser Kultur hatte. Sie beendete gewaltsam eine bis dato historisch einzigartige gesellschaftliche Sichtbarkeit weiblicher Homosexualität, die erst die neugeschaffenen kollektiven Räume in der Weimarer Republik ermöglicht hatten. Noch 1904 hatte die Frauenrechtlerin Anna Rüling auf der Jahresversammlung des Wissenschaftlich-Humanitären Komitees, der weltweit ersten Homosexuellenorganisation, folgendermaßen auf die fehlende Thematisierung weiblicher Homosexualität verwiesen:

"Ich kann und will keine Namen nennen, denn so lange in so vielen Kreisen die Homosexualität noch als etwas Verbrecherisches und Naturwidriges, im besten Falle als etwas Krankhaftes gilt, könnten sich Damen, welche ich als homosexuelle bezeichnen wollte, beleidigt fühlen."1

Homosexualität war im Wilhelminischen Deutschland pathologisiert, Frauenliebe infolgedessen tabuisiert. Zwar gibt es Hinweise auf Tanzveranstaltungen für Frauen im Berlin des Kaiserreichs und ein erster Damenklub ist nachweisbar.2 Insgesamt sind für diese Zeit jedoch nur spärliche Anzeichen eines kollektiven lesbischen Lebens auszumachen.

Ein knappes Vierteljahrhundert später, 1928, konnte die Schriftstellerin und Publizistin Ruth Margarete Roellig in ihrem Buch "Berlins lesbische Frauen"3 hingegen 14 Bars und Klubs vorstellen. Dies war nur ein Teil des Angebots, das frauenliebende Frauen nun vorfanden. Gleichwohl hielt die gesellschaftliche Diskriminierung an, wie Magnus Hirschfeld in seinem Vorwort erläuterte: "Das Buch verfolgt in erster Linie den Zweck, der breiten Öffentlichkeit Aufklärung zu bringen über die Wesensart, den Charakter und die Gewohnheiten dieser Menschengruppe, teils um tiefeingewurzelte Vorurteile auszurotten, teils um gedankenlose Ungerechtigkeiten und Härten gegen Andersfühlende zu zerstören"4, so führte der Sexualwissenschaftler aus. Roelligs Schrift zeugt von einem gewandelten Verständnis weiblicher Homosexualität, von einem Anspruch darauf, sie öffentlich sichtbar zu machen und gesellschaftliche Toleranz zu beanspruchen für jene, "von denen man offiziell nicht spricht"5, so die Autorin in ihrer Einleitung.

Roelligs Buch ist zugleich ein Zeugnis der vielfältigen homosexuellen Kultur, die in Berlin seit Gründung der Weimarer Republik binnen weniger Jahre gewachsen war. 1919 gründete Magnus Hirschfeld das Institut für Sexualwissenschaft, das zugleich Forschungsinstitut, psychosexuelle Beratungsstelle und Treffpunkt für lesbische Frauen, homosexuelle Männer und Transvestiten war. Mit dem Bund für Menschenrecht (BfM) entstand eine weitere wichtige Homosexuellenorganisation.6

Zahlreiche sogenannte Freundschaftslokale boten im Berlin der der 1920er Jahre Treffpunkte für homosexuelle Frauen und Männer. Damenklubs veranstalteten Bälle und andere gesellige Veranstaltungen. Allein in Friedrichshain und Kreuzberg gab es während der Weimarer Republik etwa 100 Lokale, Ballsäle und Cafés, die als Treffpunkte Homosexueller fungierten, sowie mehr als 25 Klubs für frauenliebende Frauen.7 Selma Engler, die Betreiberin des Damenklubs Erâto, berichtete von der Kluberöffnung 1929 in der Zeitschrift "Die Freundin": "Das große Interesse, welches dem Klub entgegengebracht wurde, zeigt, wie notwendig dieser Zusammenschluß war. Es war wirklich ein Manko, daß die Frauen der homosexuellen Bewegung kein Heim hatten."8 Ähnlich bewertete Curt Morecks "Führer durch das ‚lasterhafte' Berlin" von 1931 einen anderen zeitgenössischen Damenklub: "Violetta ist für viele lesbische Frauen das Heim, das sie andernorts entbehren müssen. (…) Sie suchen nicht nur Geselligkeit, sie nutzen ihren Zusammenschluss auch zum Kampf gegen die noch bestehende Feindlichkeit der Gesellschaft gegenüber der andersgearteten Frau."9 Folgen wir diesen Interpretationen, so dienten die geselligen Angebote nicht allein der Zerstreuung und Partnerinnensuche, sondern einer sozialen Verortung,10 die frauenliebenden Frauen innerhalb der heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft in der Regel verwehrt blieb.

In Berlin erschienen ab Mitte der 1920er Jahre auch diverse Zeitschriften für frauenliebende Frauen wie "Die Freundin", "Die Frauenliebe" und deren Nachfolgerin "Garçonne". Sie informierten über Veranstaltungen und boten ein Forum für Bekanntschaftsanzeigen. Zugleich machten sie Frauenliebe sozial sichtbar und ermöglichten auch Frauen außerhalb Berlins die Teilhabe an der neuen weiblichen Subkultur.
Der skizzierten Vielfalt homosexueller wie auch lesbischer Kultur und Vergemeinschaftung setzten die Nationalsozialisten gewaltsam ein Ende. Sie verboten Organisationen und Zeitschriften, plünderten Einrichtungen, zwangen Freundschaftslokale zu schließen. Während die strafrechtliche Sanktionierung männlicher Homosexualität verschärft wurde, wurde lesbisches Leben erneut in die Unsichtbarkeit gedrängt und verschwand weitgehend aus der gesellschaftlichen Wahrnehmung.

Trotzdem führten einzelne Berliner Damenklubs ihre Aktivitäten nach der nationalsozialistischen Machtübernahme fort, auch wenn sie polizeilicher Überwachung unterlagen und die polizeiliche Erfassung ihrer Teilnehmerinnen befürchten mussten. So registrierte die Kriminalpolizei 1935 bei einer Razzia des Damenklubs Violetta, der sich nun als "Sportclub Sonne" tarnte, 54 Frauen.11 1937 war ein Ball des Damenklubs "Lustige Neun" Ziel einer Razzia; 95 Frauen und zwei Männer kamen infolgedessen auf das Polizeipräsidium.12 "Die Überholung des Lokals und die Sistierung eines Teils der Anwesenden erfolgte, um die Teilnehmer karteimäßig erfassen zu können",13 so der Abschlussbericht der Gestapo.

Dass in Berlin auch nach 1933 Damenbälle stattfinden konnten, ist wiederholt als Beleg dafür gewertet worden, dass die Repression des NS-Regimes nicht auf weibliche Homosexualität abzielte. Diese Bewertung unterschätzt die Wirkmächtigkeit polizeilicher Überwachung im NS-Staat. Es gab lesbische Frauen, die polizeilicher Druck zur Beendigung ihrer Liebesbeziehung zwang; Frauen, die den Wohnort wechselten, um ihre lesbische Lebensweise zu verheimlichen; Frauen, die ihr Äußeres veränderten oder Scheinehen eingingen, um unentdeckt zu bleiben.

Wenn, wie Jens Dobler es formuliert hat, die antihomosexuelle Repressionspolitik "Unterbindung, Unterdrückung und Einschüchterung"14 bezweckte, so zielte sie auch auf frauenliebende Frauen ab. Allerdings bediente das Regime sich hier anderer Mittel als gegen schwule Männer; dadurch boten sich – wie das Beispiel der Damenklubs zeigt – zugleich andere Möglichkeiten, den repressiven Maßnahmen zu trotzen. In diesem Sinne sind die fortgesetzten geselligen Aktivitäten lesbischer Frauen im Nationalsozialismus auch als Versuch zu sehen, Frauenliebe als eine kollektive Lebensweise weiterzuführen – trotz eines herrschenden repressiven Regimes, das gleichgeschlechtlichen Lebens- und Liebesformen jegliche soziale Verortung verwehrte und Frauenliebe ihrer neu gewonnenen sozialen Sichtbarkeit zu berauben suchte.

Als wir vor einem Jahr die erste Gedenkveranstaltung für lesbische Frauen an diesem Denkmal durchführten, habe ich dies als einen Akt der Aneignung bezeichnet. Denn die Initiatoren des Denkmals hatten keineswegs die Repressionen gegen frauenliebende Frauen vor Augen, als sie sich für ein Homosexuellen-Denkmal einsetzten. Und noch heute gibt es nicht wenige engagierte Streiter für ein homosexuelles Gedenken, die der Gedanke empört, Repressionen wie die geschilderten seien gemeint mit der Zweckbestimmung des Denkmals, "die Erinnerung an das Unrecht wach zu halten".

Wir haben heute zum zweiten Mal dazu eingeladen, gemeinsam lesbischer Frauen zu gedenken, in der Überzeugung, dass eine solche Aneignung Zeit und Beharrlichkeit benötigt. Es geht uns mit diesem Gedenken nicht darum, unterschiedliche Leidensgeschichten gegeneinander aufzurechnen. In meinem Sinne – und ich hoffe auch in Ihrem – ist es, das Denkmal zu einem vielschichtigeren Ort werden zu lassen. Einem Ort, der dazu einlädt, an ganz unterschiedliche Geschichten homosexueller Frauen und Männer zu erinnern, die den Repressionen des NS-Regimes ausgesetzt waren. Ich denke, eine solche Öffnung entspricht der Vielfalt nicht-heteronormativer Lebensweisen und Lebenswege – in der Geschichte wie in der Gegenwart.

Corinna Tomberger

Zitiervorschlag:
Tomberger, Corinna: Rede zu "Verschwiegen und Vergessen – Eine Veranstaltung zum Gedenken an das Leid lesbischer Frauen im Nationalsozialismus" von Spinnboden Lesbenarchiv und Bibliothek und der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft am 7. Mai 2014, Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen, Berlin., [online] Availiable from: Online-Projekt Lesbengeschichte. Boxhammer, Ingeborg/Leidinger, Christiane. URL: <https://www.lesbengeschichte.org/ns_gedenkveranstaltungen_d.html> [cited date].

1 Rede von Anna Rüling (Pseudonym der Schriftstellerin Theo Anna Sprüngli) vom 9. Oktober 1904, zit. nach Schoppmann, Claudia: Vom Kaiserreich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, in: Dennert, Gabriele/Leidinger, Christiane/Rauchut, Franziska (Hg.), In Bewegung bleiben. 100 Jahre Politik, Kultur und Geschichte von Lesben, Berlin 2007, S. 12-26, hier S. 12.
2 Vgl. Dobler, Jens: Von anderen Ufern. Geschichte der Berliner Lesben und Schwulen in Kreuzberg und Friedrichshain, Berlin 2003, S. 63 f.
3 Roellig, Ruth Margarete: Berlins lesbische Frauen, Nachdruck der Ausgabe von 1928 mit frz. Übersetzung, Cahiers Gai-Kitsch-Camp Nr. 16, Lille 1992. 4 Magnus Hirschfeld in Roellig: Berlins lesbische Frauen, Lille 1992, S. 10.
5 Roellig: Berlins lesbische Frauen, Lille 1992, S. 16.
6 Der BfM wurde 1923 gegründet, seine Vorläuferorganisation, der "Deutsche Freundschaftsverband", 1920, vgl. Baumgardt, Manfred: Das Institut für Sexualwissenschaft und die Homosexuellenbewegung in der Weimarer Republik, in: Eldorado. Homosexuelle Frauen und Männer in Berlin 1850-1950. Geschichte, Alltag und Kultur, hrsg. vom Verein der Freunde eines Schwulen-Museums in Berlin e.V., Berlin 1992, S. 31-43, hier S. 38.
7 Vgl. Dobler: Von anderen Ufern, Berlin 2003, S. 7.
8 Selma Engler in: Die Freundin, 5. Jg. 1929, Nr. 15, zit. nach Dobler: Von anderen Ufern, Berlin 2003, S. 17.
9 Moreck, Curt: Führer durch das ‚lasterhafte' Berlin, Leipzig o.J., zit. nach Pretzel, Andreas: Vom Dorian Gray zum Eldorado. Historische Orte und schillernde Persönlichkeiten im Schöneberger Regenbogenkiez, hrsg. von MANEO, Berlin 2012, S. 94 f.
10 Vgl. Hellmuth, Juliane: Lesbisches Leben, lesbische Orte. Homosexuelle Räume in Großstädten, Marburg 2011, S. 21.
11 Vgl. Dobler: Von anderen Ufern, Berlin 2003, S. 113.
12 Vgl. Dobler: Von anderen Ufern, Berlin 2003, S. 188.
13 Zit. nach ebd.
14 Dobler, Jens: Unzucht und Kuppelei. Lesbenverfolgung im Nationalsozialismus, in: Insa Eschebach (Hg.), Homophobie und Devianz. Weibliche und männliche Homosexualität im Nationalsozialismus, Berlin 2012, S. 53-62, hier S. 61.




Text am 7. Mai 2014 von Dr. Claudia Schoppmann: Zum Doppelleben gezwungen. Biografische Annäherungen.
Gelesen von Sigrid Grajek (SG) und Claudia Schoppmann (CS)


SG:
"Natürlich begann die Maskierung auch im privaten Leben. Ich lebte schon seit Jahren mit meiner Freundin zusammen. Manchmal munkelten die Leute: ‚Haben die was zusammen?' Als das Dritte Reich ‚ausbrach', hieß es dann bösartig: ‚Die haben doch was zusammen!' Da waren die Hauswarte und Blockwarte, die in unser Privatleben ‚hineinleuchteten' und Meldungen erstatten sollten. Unsere Zimmervermieterin wurde ausgefragt, ob sie etwas über unser ‚Intimleben' wüsste. Eines Tages kam unser Chefredakteur zu mir ins Atelier und sagte ungeduldig, ich müsse endlich heiraten oder er könne mich nicht weiter beschäftigen."

CS:
So beschreibt eine Berliner Modezeichnerin, wie sich ihr Leben nach 1933 änderte – und welche Maßnahmen sie ergriff, um sich vor Ausgrenzung und Verfolgung zu schützen. Sie und ihre Freundin beschließen, mit einem befreundeten schwulen Paar – Kollegen von der Berliner Textil- und Modeschule – zusammenzuziehen.

SG:
"Aber damit hatten wir den ‚Geboten der neuen Zeit' noch nicht Genüge getan. Wieder war es der Hauswart mit dem Parteiabzeichen, der uns sagte: ‚Sie können doch nicht in wilder Ehe leben, das ist nicht im Sinne des Führers.' Dabei war der Mann nicht böswillig, sondern ein netter Berliner. Immerhin, wenn der schon so redete... Also beschlossen wir zwei Frauen, unsere zwei Freunde zu heiraten."
Mit der – einvernehmlichen – Eheschließung reagierten die Modezeichnerin und ihre Partnerin auf den Druck seitens ihres Vorgesetzten. Und den des Hauswarts, der "Verdächtiges" der Partei zu melden hatte. So gelang es dem Frauenpaar, nach außen den Schein zu wahren.

CS:
Vor einem Jahr, an dieser Stelle, hörten wir von Frauen, die verfolgt und in Fürsorgeheimen, Gefängnissen oder Konzentrationslagern gelitten haben, weil ihre Liebe oder ihr Begehren dem eigenen Geschlecht galt. Für eine von ihnen, Elly Smula, die 1943 im Konzentrationslager Ravensbrück ums Leben kam, soll in nächster Zeit ein Stolperstein vor ihrer letzten Wohnung in Berlin-Friedrichshain verlegt werden. Auch dies ist eine Möglichkeit des Sichtbarmachens und des Gedenkens.

Heute wollen wir an andere Schicksale und Lebenswege lesbischer Frauen erinnern. Daran, wie sie – oft einfallsreich und mutig – handelten, um Anfeindungen und Repressionen zu entgehen. Manche zogen sich ins Privatleben zurück, brachen Kontakte und Beziehungen ab oder passten ihr Aussehen dem nationalsozialistischen Frauenbild an. Andere wechselten den Wohnort, flüchteten in die Anonymität der Großstadt oder lebten gänzlich "untergetaucht".

Wie viele homosexuelle Frauen und Männer zur Tarnung heirateten, ist aus naheliegenden Gründen nicht feststellbar. Heinrich Himmler, Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei ab 1936, schätzte die Zahl der Scheinehen gar auf eine Million. Doch auch eine sogenannte Kameradschaftsehe bot keinen absoluten Schutz – vor allem dann nicht, wenn die Partner ihre jeweiligen Beziehungen fortsetzten.

SG:
Im Oktober 1934 lernt die Arbeiterin Irma Fischer in Hamburg, in der Gastwirtschaft ihrer Tante, Adolf Großkopf kennen. Großkopf, der beim Hamburger Arbeitsamt angestellt ist, lebt mit seinem Freund Fritz Meinke zusammen, der ihm offiziell den Haushalt führt. Beide Männer hatten sich in einem Lokal auf St. Pauli kennengelernt, das als Schwulentreffpunkt galt.

Im März 1935 heiraten Adolf Großkopf und Irma Fischer. Bei der erforderlichen ärztlichen Prüfung auf "Ehetauglichkeit" verschweigen die Brautleute natürlich ihre Homosexualität. Beide setzen ihre gleichgeschlechtlichen Beziehungen fort. Nach einigen Monaten fliegt die Scheinehe jedoch auf. Wieso Adolf Großkopf ins Visier der Gestapo geriet, ist nicht bekannt. Bei den polizeilichen Ermittlungen stellt sich heraus, dass das Ehepaar nach der Heirat ein staatliches Darlehen beantragt und auch erhalten hat. Möbel wurden angeschafft. Adolf und Irma Großkopf werden im September 1936 vom Landgericht Hamburg wegen Schädigung "am Wohl des Volkes" – das heißt wegen Betrugs – verurteilt. Schließlich, so urteilt das Gericht, solle die finanzielle Unterstützung nur solchen Ehepaaren zugute kommen, "die eine normale Ehe und die Begründung einer Familie beabsichtigen", nicht aber solchen, die durch die Heirat nur "ihre anormale Veranlagung" verbergen wollen. Irma Großkopf erhält drei Monate Gefängnis, die nach einem Gnadengesuch zur Bewährung ausgesetzt werden. Das Gericht hält Adolf Großkopf für den Hauptschuldigen, da er seiner Ehefrau "geistig weit überlegen" sei. Er erhält eine Gesamtstrafe von zweieinhalb Jahren, da ihm homosexuelle Handlungen mit Männern, vor allem mit Fritz Meinke, nachgewiesen wurden.

CS:
Fatale Folgen konnte es haben, wenn lesbische Frauen einen heterosexuellen Mann heirateten, der nicht eingeweiht oder nicht bereit war, auf ihre Orientierung Rücksicht zu nehmen – wie etwa bei Margot Holzmann, einer jüdischen Tänzerin.

SG:
Margot Holzmann, 1912 geboren, lebt mit ihrer nichtjüdischen Freundin Marta Halusa in Berlin zusammen. Die zwei Jahre ältere Marta wird von ihren Freundinnen nur Peter genannt. Schon seit Beginn der dreißiger Jahre sind beide Frauen ein Paar. Versuche, in die Schweiz zu emigrieren, scheitern. 1941 lernt Margot Holzmann einen chinesischen Kellner namens Chi Lan Liu kennen. Sie geht ein Verhältnis mit ihm ein und behauptet wenig später, von ihm schwanger zu sein. Margot Holzmann drängt den Chinesen, sie zu heiraten. Durch die chinesische Staatsangehörigkeit, die sie durch die Heirat erhält, ist sie vorläufig vor einer Deportation geschützt. Doch ihr Ehemann merkt bald, dass Margots Liebe nicht ihm gilt, sondern ihrer Freundin. Er zwingt sie, ihre "ehelichen Pflichten" zu erfüllen. Dabei bleibt es nicht. Chi Lan Liu droht mit Scheidung. Margot verlässt ihn, aber Chi Lan Liu denunziert sie bei der Gestapo. Margot wird verhaftet, kommt aber wegen ihrer chinesischen Staatsangehörigkeit wieder frei. Und dank der Hilfe ihrer Freundin. Ständig wechselt sie nun ihre Unterkunft, taucht unter. Auch Marta Halusa wird festgenommen, weil sie zu ihrer Freundin hält und sie versteckt. "Judenbegünstigung" nennen das die Nazis. Darauf steht KZ-Haft. Dank Bestechung eines Gestapobeamten kommt Marta Halusa wieder frei. Bei der letzten Verhaftung schwer misshandelt und abgemagert auf 36 Kilo, erlebt Margot Holzmann am 2. Mai 1945 die Befreiung durch die Rote Armee. Beide Frauen emigrieren 1949 nach England.

CS:
Welche Vorsichtsmaßnahmen, welche Über-Lebensstrategien lesbische Frauen im ‚Dritten Reich' auch ergriffen – es gab keine absolute Sicherheit, keinen garantierten Schutz. Denunziationen etwa konnten weitreichende Folgen haben, vor allem für jüdische Frauen oder solche, die den Nazis aus anderen Gründen ein Dorn im Auge waren.

Welche psychischen Belastungen, welche Beeinträchtigungen resultierten aus dem Zwang, das eigene Lieben und Begehren über Jahre zu verheimlichen? Dies ist nur schwer zu ermessen. Die Auswirkungen dieser "Zeit der Maskierung", wie es die zu Beginn genannte Modezeichnerin beschrieben hat, reichten weit über das Kriegsende hinaus.


Zitiervorschlag:
Schoppmann, Claudia: Text zu "Verschwiegen und Vergessen – Eine Veranstaltung zum Gedenken an das Leid lesbischer Frauen im Nationalsozialismus" von Spinnboden Lesbenarchiv und Bibliothek und der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft am 7. Mai 2014, Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen, Berlin., [online] Availiable from: Online-Projekt Lesbengeschichte. Boxhammer, Ingeborg/Leidinger, Christiane. URL: <https://www.lesbengeschichte.org/ns_gedenkveranstaltungen_d.html> [cited date].




Rede von Prof. Dr. Sabine Hark zu "Verschwiegen und Vergessen – Eine Veranstaltung zum Gedenken an das Leid lesbischer Frauen im Nationalsozialismus" von Spinnboden Lesbenarchiv und Bibliothek und der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft am 7. Mai 2014, Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen, Berlin

Es dauerte eine Weile, bevor uns klar wurde, dass unser Ort das Haus des Andersseins selbst war und nicht die Sicherheit eines einzelnen Unterschieds.
(Audre Lorde, 1986)

Liebe Anwesende,
ich möchte mich zunächst bedanken für die Einladung, heute hier sprechen zu dürfen. Ich habe sie sehr gerne angenommen. Und das vor allem, weil wir nach Meinung vieler in einer Zeit leben, die von Oscar Wildes berühmtem Satz von "der Liebe, die ihren Namen nicht zu nennen wagt" so weit entfernt ist.

Verschwiegen und Vergessen – was die Schicksale und Lebenswege lesbischer Frauen* im Nationalsozialismus beschreibt, auf den ersten Blick jedenfalls scheint es in diesem Teil der Welt nicht mehr Teil der Wirklichkeit des Lebens von Lesben* zu sein. Doch so sehr das in vielerlei Hinsichten wahr ist, so sehr ist auch wahr, dass wir gerade in den vergangenen zwei Jahren europaweit erleben konnten, wie leicht Homophobie als gesellschaftliche Verteidigungsstrategie aktivierbar ist. Und hier reden wir nicht nur von versprengten christlichen Ultras, die in Baden-Württemberg gegen den Bildungsplan für sexuelle Vielfalt agitieren, sondern von der berühmten Mitte der Gesellschaft. Wahlweise im Namen des Kindeswohls, der Natürlichkeit der heterosexuellen Kernfamilie, der "christlich-abendländischen Kultur" oder auch der Schöpfung streitet hier beispielsweise die Kanzlerin, die Büchner-Preisträgerin Sybille Lewitscharoff, die AfD und die baden-württembergische CDU für die weitere Begünstigung der heterosexuellen Ehe als Fundament der Gesellschaft. "Aufklärung über sexuelle Vielfalt", beschloss demzufolge jüngst deren Landesparteitag, widerspreche "dem grundgesetzlich garantierten ›Schutz von Ehe und Familie‹". In den Bildungsplänen des Landes soll daher neben diesem Schutz von Ehe und Familie auch "Artikel 16 Abs. 1 (›Erziehung auf Grundlage der christlich-abendländischen Kultur‹) der baden-württembergischen Landesverfassung" eingehalten werden.

Dabei stimmt ja, was hier allenthalben geunkt wird: Die kulturelle, soziale und symbolische Architektur moderner Gesellschaften ist nicht zuletzt durch die feministischen, lesbischen und schwulen Emanzipationsbewegungen der vergangenen Jahrzehnte erschüttert worden. Der Widerstand der gesellschaftlichen Mitte wird so kenntlich als Antwort darauf, dass Lesben und Schwule, Transgender und Intersexuelle mehr als Toleranz einklagen und offensiv die Frage stellen, wessen Leben und welche Bindungen zählen. Genau deshalb gehören Fragen wie, wer und was eine Familie ist, wie sie gelebt wird und gelebt werden soll, nach ‚angemessenen' Geschlechterbildern und welche Rechte lesbischen, schwulen und transgeschlechtlichen Lebensweisen zustehen, gegenwärtig zu den umstrittensten Fragen politischer, ethisch-moralischer, juristischer und gesellschaftlicher Auseinandersetzung.

Das Denkmal, an dem wir uns heute versammelt haben, ist im Lichte dieser Auseinandersetzungen betrachtet also aktueller denn je. Denn der deutsche Bundestag verband damit ja neben der Ehrung der "verfolgten und ermordeten Opfer des NS" und der "Erinnerung an das NS-Unrecht" auch die Hoffnung, ein "beständiges Zeichen gegen Intoleranz, Feindseligkeit und Ausgrenzung gegenüber Schwulen und Lesben" zu setzen. Wir alle wissen, dass seit diesem Beschluss im Jahr 2003 intensiv um genau diese Frage, ob es ein gemeinsames Mahnzeichen für Schwule und Lesben geben kann, da die NS-Verfolgungsgeschichte doch so unterschiedlich gewesen ist, politisch und wissenschaftlich gestritten wird. Günter Grau hat in diesem Zusammenhang vor einem Jahr an dieser Stelle vor einer Hierarchisierung der Opfer und der Instrumentalisierung von Erinnerungs- und Gedenkpolitik gewarnt. Ich will diese Debatte hier nicht wieder aufleben lassen, aber an Günter Graus Warnung anschließen und mich noch einmal der Frage zuwenden, warum wir an die durch vielfältige, ja auch widersprüchliche und unvergleichliche Linien von Unterdrückung und Widerstand fragmentierte Geschichte von Lesben und Schwulen dennoch als gemeinsame Geschichte erinnern müssen.

Die Geschichte von Lesben und Schwulen als gemeinsame Geschichte zu begreifen, bedeutet ja nicht, über alle historischen Unterschiede hinweg zu gehen und diese zu negieren. Es bedeutet vielmehr, Geschichte als etwas zu begreifen, für das wir eine gemeinsame Verantwortung tragen: Verantwortung für die Geschichten, die zu erzählen wir uns entschieden haben, für die Weisen, wie wir lesbisches und schwules Lieben und Begehren sichtbar machen. Denn verstehen wir Geschichte als die kontinuierliche Beziehung zwischen dem, was bereits existiert und dem, was die Zukunft ausmachen wird, heißt das, dass wir auch durch unsere Erzählungen mit darüber bestimmen, welches Begehren und welches Lieben in Zukunft lebbar sein kann. Sind es doch gerade die Versionen historischer Erinnerung ebenso wie das in diese Erzählungen eingeschlossene Schweigen, die konstruieren, wer wir sind, und mit denen wir uns erzählen, wie und wo wir interessiert sind und wie wir politisch positionieren und positioniert werden. Wenn also mit jeder Sichtachse Schneisen geschlagen werden, die andere und anderes im Ungefähren, im Dunkeln zurücklassen, muss jede Sicht auf Geschichte, jede Sicht von Geschichte auf folgende Fragen antworten: Was gibt uns diese Sicht zu sehen? Welche Grenzen hat diese Sicht?

Geschlagene Schneisen verlassen, den Dialog zwischen unterschiedlichen Erfahrungen und Geschichten versuchen und an der Entwicklung einer gemeinsamen Sprache gesellschaftlicher Teilhabe zu arbeiten, einer Sprache, die uns nicht alle auf ein Maß eichen will, könnte dagegen die Wahrnehmung des Reichtums an Phantasien und (Über-)Lebensweisen befördern, die Lesben und Schwule in ihrer Geschichte bereits erfunden haben. Statt identitätspolitisch motivierte Abschottung zu betreiben, sollten wir unsere Energie viel stärker darauf richten, wie die in unseren jeweiligen Subkulturen entstandenen sexuellen und geschlechtlichen Arrangements und Lebensführungen in eine Politik übersetzt werden können, in der Differenzen nicht als Bedrohung, sondern als Voraussetzung von Gemeinschaft begriffen wird. Denn ohne Gemeinschaft und zwar eine Gemeinschaft der Differenten, daran hat uns Audre Lorde (1981) erinnert, gibt es keine Befreiung, sondern nur den höchst prekären und vorübergehenden Waffenstillstand zwischen jede_r Einzelnen und ihrer Unterwerfung.

Daran zu erinnern, dass Unterdrückung nicht nur durch offene Verbotsakte wie z. B. Strafparagraphen funktioniert, sondern auch durch die Produktion eines Gebiets der Undenkbarkeit und Unaussprechlichkeit, weshalb lesbische Lebens- und Liebesformen zum Teil nicht einmal in das Denk- und Vorstellbare vorgestoßen sind, heißt also nicht, die Verfolgung schwuler Männer zu relativieren. Es heißt aber schon, daran zu erinnern, dass wir es auch hier mit Verhältnissen der Verhinderung, Stigmatisierung und Marginalisierung zu tun haben. "Ausdrücklich verboten zu werden", kommentiert Judith Butler (1996), "bedeutet einen Schauplatz des Diskurses zu bewohnen, von dem aus so etwas wie ein umgekehrter Diskurs artikuliert werden kann; implizit verboten zu werden bedeutet, nicht einmal als Verbotsobjekt in Frage zu kommen", was die Formulierung eines Gegen-Diskurses, ja überhaupt von Sichtbarkeit umso komplizierter macht. "Und obwohl", so Butler schon Anfang der 1990er Jahre und mit Blick auf die heutige Situation weltweit damit ungeahnt hellsichtig, "im gegenwärtigen Klima alle Formen von Homosexualität ausgelöscht, reduziert und als Schauplätze radikaler homophober Phantasien rekonstituiert werden, ist es wichtig, die verschiedenen Wege nachzuzeichnen, auf denen die Undenkbarkeit der Homosexualität immer wieder konstituiert wird. Als ständige Unwahrheit vorzukommen ist eine Sache – etwas anderes ist es, im kulturellen und sozialen Imaginären ausgelöscht zu sein.

Sichtbarkeit und die Möglichkeit für sich selbst sprechen zu können, ist also abhängig von Machtkonstellationen, für die wir alle Verantwortung tragen. Das heißt aus lesbischer Sicht, Herrschaftsverhältnisse nicht zu negieren, die Schwule zum Schweigen bringen. Aber es heißt auch, woran uns der Schriftsteller Samuel Delany (1990) erinnert, dass die größte Hilfe, die Lesben und Schwule einander in der tagtäglichen Arbeit an der Freiheit gewähren können, die klare und aktive Anerkennung des Ausmaßes und der Natur der verschiedenen Kontexte, in denen wir leben, ist, sowie die reiche und engagierte Sympathie für die unterschiedlichen Prioritäten, die diese Kontexte erfordern.

Die aktive Arbeit gegen das Vergessen der Lebenswege lesbischer Frauen* im Nationalsozialismus ist deshalb nicht die Aufgabe lesbischer Frauen* allein. Es ist eine Verantwortung, derer sich auch schwule Männer nicht entledigen können, wenn wir Emanzipation nicht als eigennütziges Unternehmen missverstehen wollen. Denn, so noch einmal Delany: "Die Situation von Lesben unterscheidet sich wesentlich von der schwuler Männer. Die entschiedene Anerkennung dieser Tatsache besonders durch Schwule ist die erste Vorbedingung für jegliche anspruchsvolle Diskussion lesbisch-schwuler Politik."

Wie also können wir "deine und meine Geschichte miteinander verhandeln", wie Satya Mohanty (1989) fragt? Und wie ist es möglich, fragt er weiter, "unsere Gemeinsamkeit zu bergen, das heißt die Überlappungen unserer verschiedenen Vergangenheiten und Gegenwarten, die unvermeidlichen Beziehungen zwischen geteilten und umstrittenen Bedeutungen, Werten und materiellen Ressourcen? Es ist notwendig, dass wir unsere dichten Verschiedenheiten und unsere gelebten und imaginierten Differenzen geltend machen, aber können wir es uns leisten, die Frage, wie unsere Differenzen ineinander verwoben sind und hierarchisch organisiert wurden, unbeachtet zu lassen? Mit anderen Worten, können wir es uns erlauben, absolut verschiedene Geschichten zu haben und uns als in absolut heterogenen und getrennten Orten lebend sehen?" Eine "Ontologie voneinander unabhängiger Identitäten", so noch einmal Judith Butler (2005), leistet keinen "Beitrag zu dem analytischen Vokabular, das wir zum Begreifen der weltweiten Interdependenz und der global verflochtenen Netzwerke der Macht und der Haltungen im heutigen politischen Leben brauchen".

Was uns mit den Schicksalen jener Frauen* verbindet, von denen Claudia Schoppmann gesprochen hat, ist der Kampf für ein lebbares Leben, der Kampf dafür, Raum zum Atmen zu haben. Frei atmen zu können, so beschreibt es die feministische Philosophin Mari Ruti, bedeutet Aspiration. Mit dem Atem kommt Imagination und Phantasie. Mit Atem kommt Möglichkeit. Wenn es in queerer Politik um Freiheit geht, so geht es um nicht mehr und nicht weniger als die Freiheit zu atmen. Die Freiheit, das eigene Lieben und Begehren leben zu können und nicht verheimlichen zu müssen.

Sabine Hark

Zitiervorschlag:
Hark, Sabine: Text zu "Verschwiegen und Vergessen – Eine Veranstaltung zum Gedenken an das Leid lesbischer Frauen im Nationalsozialismus" von Spinnboden Lesbenarchiv und Bibliothek und der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft am 7. Mai 2014, Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen, Berlin., [online] Availiable from: Online-Projekt Lesbengeschichte. Boxhammer, Ingeborg/Leidinger, Christiane. URL: <https://www.lesbengeschichte.org/ns_gedenkveranstaltungen_d.html> [cited date].

Literatur:
Judith Butler 1996: Imitation und die Aufsässigkeit der Geschlechtsidentität. In: Grenzen lesbischer Identitäten. (Hg.) Sabine Hark, Berlin.
Judith Butler 2005: Raster des Krieges. Frankfurt am Main/New York.
Samuel Delany 1990: Introduction. In: Uranian Worlds. A Reader's Guide to Alternative Sexuality in Science Fiction and Fantasy. (Hg.) Eric Garber, Lyn Paleo, Boston.
Audre Lorde 1981: The Master's Tools Will Never Dismantle the Master's House. In: This Bridge Called My Back. Writings by Radical Women of Color. (Hg.) Cherríe Moraga, Gloria Anzaldúa, New York.
Audre Lorde 1986: Zami. Eine Mythobiographie, Berlin.
Satya Mohanty 1989: Us and Them: On the Philosophical Bases of Political Criticism. In: Yale Journal of Criticism.
Mari Ruti 2006: Reinvention the Soul: Posthumanist Theory and Psychic Life. New York.




Gedenkveranstaltung 2015:


16. November 2015: Stolpersteinverlegung im Gedenken an Elli Smula (1914-1943)

Die Berliner Straßenbahnschaffnerin Elli Smula wurde 1940 als lesbisch denunziert, verhaftet und ins KZ Ravensbrück deportiert, wo sie 1943 ermordet wurde.
Montag, den 16. November 2015, am letzten Wohnort von Elli Smula gegenüber Singerstr. 120 (ehemalige Blumenstr. 92) / Höhe Ecke Schillingstraße, 10179 Berlin-Mitte

Es sprachen:
Dr. Claudia Schoppmann, Stein-Patin und Historikerin
Monika Wissel, Bezirksbürgermeisterin von Charlottenburg a. D.



Rede von Dr. Claudia Schoppmann, Stein-Patin und Historikerin, zur Stolpersteinverlegung in Gedenken an Elli Smula in Berlin

Als Patin dieses Stolpersteins möchte ich Sie und Euch alle herzlich begrüßen. Wir sind heute hier, um an Elli Smula zu erinnern. Wer war diese Frau? Warum wurde sie 1940 verhaftet und ins KZ Ravensbrück verschleppt? Die Suche nach ihren Spuren erwies sich als schwierig. Deshalb werden Sie im Folgenden auch öfter Formulierungen wie vermutlich oder möglicherweise hören.

Elli Smula wurde kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs geboren, am 10. Oktober 1914 in Charlottenburg bei Berlin. Die Mutter, Martha Smula, arbeitete damals als Dienstmädchen in Hohenlychen in der Uckermark, etwa 100 km nördlich von Berlin. Vermutlich war sie in den dortigen Heilstätten für lungenkranke Frauen und Kinder beschäftigt.
Martha Smula wurde 1892 in Brieg an der Oder geboren. Die niederschlesische Stadt, 40 Kilometer südöstlich von Breslau, gehört heute zu Polen und heißt Brzeg. Martha Smula stammte aus einfachen Verhältnissen und arbeitete seit ihrem 14. Lebensjahr als Hausangestellte. Sie war evangelisch.

1911 kam ihr Sohn Willi zur Welt, drei Jahre später die Tochter Elli. Der Vater beider Kinder starb während des Ersten Weltkrieges als Soldat und wir wissen nicht, ob er seine Tochter je gesehen hat. Da Ellis Eltern nicht verheiratet waren, bekam Martha Smula keine Witwenpension und musste den Unterhalt für sich und ihre Kinder allein verdienen.

Später zog Familie Smula von Hohenlychen nach Berlin. Dort lebte eine Schwester von Martha Smula, vielleicht auch noch andere Familienangehörige. In den Berliner Adressbüchern ist sie ab 1937 als Gastwirtsangestellte in der Blumenstr. 92 im Bezirk Mitte verzeichnet. Es war ein typisches Berliner Wohnhaus mit vielen Mietparteien, das sich an der Stelle befand, an der wir jetzt stehen. Martha Smula wohnte mit ihrer Tochter im Seitenflügel im 4. Stock. (In derselben Straße wohnte einst auch Alfred Döblin, der mit seinem Großstadtroman "Berlin Alexanderplatz" dieser Gegend ein literarisches Denkmal gesetzt hat.) Elli Smula war als Arbeiterin tätig. Zu einer Berufsausbildung hatte vermutlich das Geld gefehlt, nachdem ihr Bruder Willi eine Tischlerlehre gemacht hatte. Vielleicht ging sie ab und zu ins "Resi Casino", ein stadtbekanntes Berliner Tanzlokal, das sich vis-à-vis ihres Wohnhauses in der Blumenstr. 10 befand. Im "Resi" gab es Tanzmusik mit großem Orchester und modernen Finessen wie Tischtelefonen, eine Saalrohrpost, Wasser- und Lichtspielen.

Ob Elli Smula einen Freund hatte – oder eine Freundin? Es gibt keine persönlichen Unterlagen (z.B. Briefe), die Rückschlüsse auf ihr Privatleben zulassen. Sie war ledig und wohnte bis zu ihrer Festnahme bei ihrer Mutter. Soweit bekannt, war sie nicht in der NSDAP oder einer Parteiorganisation wie dem BDM oder der NS-Frauenschaft.

Im Sommer 1940 wurde Elli Smula – sie war damals 25 Jahre alt – zur Arbeit bei der Berliner Verkehrs-Gesellschaft, kurz BVG, dienstverpflichtet. Die BVG musste täglich Zigtausende von Fahrgästen zu ihren Arbeitsplätzen in der Rüstungsindustrie befördern. Da viele Arbeiter und Angestellte der BVG als Soldaten eingezogen waren, herrschte starker Personalmangel. Infolgedessen wurden mehr als 3000 Frauen zur Arbeit herangezogen. Auch als Schaffnerinnen – eine Arbeit, die bislang Männern vorbehalten war.

Am 23. Juli 1940 begann Elli Smula ihren Dienst bei der BVG im Bezirk Treptow. Im Straßenbahndepot in der Elsenstraße, Ausgangs- und Endpunkt einer ganzen Reihe von Straßenbahnlinien, wurde sie als Schaffnerin im Fahrdienst eingesetzt. Am selben Tag nahm auch Margarete Rosenberg dort die Arbeit auf. Die 30-jährige Frau, die wie Elli Smula nichtjüdisch war und ebenfalls keine Berufsausbildung hatte, war zuvor mehrere Jahre als Prostituierte tätig gewesen. Sie unterlag den behördlichen Schikanen gegenüber Prostituierten, das heißt sie musste sich regelmäßig bei der Gesundheitsbehörde auf Geschlechtskrankheiten untersuchen lassen. 1935 hatte Margarete Rosenberg einen ehemaligen Freier geheiratet.


Wenige Wochen nach ihrem Dienstantritt wurden beide Frauen von der Gestapo verhaftet – Elli Smula am 12. September 1940 bei der Arbeit, Margarete Rosenberg drei Tage später –, und ins Polizeigefängnis am Alexanderplatz eingeliefert. Mindestens viermal wurden sie in den nächsten Wochen vom Polizeipräsidium in die Prinz-Albrecht-Straße 8 gefahren und dort getrennt verhört. Diese Adresse, seit 1933 Sitz der Gestapo-Zentrale und seit Kriegsbeginn des Reichssicherheitshauptamts, des europaweit agierenden Terrorapparats von Polizei und SS, war ein Synonym des Schreckens. (Dort befindet sich heute die Gedenkstätte "Topographie des Terrors".)

Die Ermittlungen wurden von der Gestapo-Dienststelle IV B 1 c durchgeführt. Hinter dem Kürzel verbarg sich das Sachgebiet "Homosexualität", das zum Referat für "Parteiangelegenheiten, oppositionelle Jugendliche und Sonderfälle" gehörte. Maßgeblich zuständig für die Bekämpfung der Homosexualität beim Geheimen Staatspolizeiamt war Kriminalinspektor Friedrich Fehling, von 1934 (mit Unterbrechungen) bis Kriegsende.

Obwohl seit Kriegsbeginn in erster Linie die Kriminalpolizei für die Verfolgung homosexueller Männer verantwortlich war, blieb das Homosexuellendezernat bei der Gestapo-Zentrale weiter tätig und ermittelte im Jahr 1940 – allein in Berlin – gegen etwa 150 Männer wegen des Verdachts auf Homosexualität, wie der Historiker Andreas Pretzel herausfand. Dass auch Frauen beim Verdacht lesbischer Beziehungen von dieser Dienststelle verfolgt wurden, war bisher kaum bekannt.

Was Elli Smula und Margarete Rosenberg zur Last gelegt wurde, geht aus einem Vermerk des Homosexuellendezernats vom 26. September 1940 hervor. Darin heißt es:
"Bei der BVG wurde darüber Klage geführt, daß auf dem Straßenbahnhof in Treptow einige Straßenbahnschaffnerinnen angestellt seien, die regen Verkehr mit Kameradinnen ihres Betriebes in lesbischer Hinsicht unterhalten. So wurde behauptet, daß sie Arbeitskameradinnen mit in die Wohnung nehmen, sie unter Alkohol setzen und dann mit ihnen gleichgeschlechtlich verkehren. Am nächsten Tage seien die Frauen dann nicht in der Lage gewesen, ihren Dienst zu versehen. Dadurch wurde der Betrieb des Straßenbahnhofs Treptow stark gefährdet."

Die BVG erstattete bei der Gestapo Anzeige, worauf eine eingehende Untersuchung angeordnet wurde. Wir wissen nicht, wer Elli Smula, Margarete Rosenberg und möglicherweise weitere Schaffnerinnen verraten hat. War es eine Kollegin oder ein Vorgesetzter? Die BVG, seit 1933 auf dem Weg zum "nationalsozialistischen Musterbetrieb", hatte noch im selben Jahr einen sogenannten "Sicherheitsdienst" eingerichtet, der der Einschüchterung der Belegschaft diente und Denunziationen Tür und Tor öffnete.

Margarete Rosenberg gab schließlich zu, "sich an Zechgelagen beteiligt und mit Frauen gleichgeschlechtlich verkehrt zu haben". Aufgrund ihres "unsoliden Lebenswandels" habe sie ihren Dienst nicht regelmäßig versehen, lautete das Fazit der Gestapo. War das Geständnis zutreffend? Kam es unter Misshandlungen zustande? Mit Sicherheit waren die Gestapobeamten bei den Verhören nicht zimperlich.

Anzunehmen ist, dass im Zuge der Ermittlungen weitere Straßenbahnschaffnerinnen und andere Kollegen vernommen wurden. Es sind jedoch keine Namen bzw. Vernehmungsprotokolle überliefert.

Sexuelle Handlungen zwischen Frauen fielen, anders als diejenigen zwischen Männern, nicht unter §175 des Strafgesetzbuches, somit konnte die Gestapo den "Fall" nicht an die Justiz abgeben. Eine bloße Einstellung der Ermittlungen kam jedoch offenbar auch nicht in Frage. Die Gestapo verhängte stattdessen Schutzhaft – das bedeutete die Einweisung in ein Konzentrationslager, ohne Aussicht auf Entlassung. Rechtsmittel waren dagegen nicht zulässig.

Elli Smula wurde am 10. Oktober 1940, ihrem 26. Geburtstag, zum letzten Mal verhört. Die nächsten Wochen verbrachte sie weiter im Polizeigefängnis am Alexanderplatz. Dort konnte sie ihre Mutter einmal unter Aufsicht sehen – und ihr zuflüstern, dass sie an Hunger leide. Am 30. November 1940, heute vor fast genau 75 Jahren, wurden Elli Smula und Margarete Rosenberg ins KZ Ravensbrück deportiert und – neben 56 weiteren Frauen – als "Neuzugänge" registriert. "Staatsabträgliches Verhalten" stand als Einweisungsgrund auf Margarete Rosenbergs Schutzhaftbefehl, und dies war vermutlich auch bei Elli Smula der Fall. Beide wurden den politischen Gefangenen zugeordnet, das heißt sie mussten im Lager einen roten Winkel tragen.

Auf der Zugangsliste des KZ Ravensbrück steht neben dem Haftgrund (politisch) bei beiden zusätzlich der Hinweis "lesbisch". Bei Margarete Rosenberg findet sich diese Angabe auch noch im Januar 1945, als sie in ein anderes Lager verlegt wurde. Sie überlebte die Haftzeit von mehr als vier Jahren mit schweren gesundheitlichen Schäden und starb 1985.

Wir können uns heute kaum vorstellen, welch schrecklichen Lebensbedingungen Elli Smula im Lager ausgesetzt war, ohne ausreichende Ernährung und Kleidung, bei schwerer Arbeit und stundenlangem Appellstehen bei Wind und Wetter.
Wenn sie, wie andere Gefangene, einmal im Monat ihrer Mutter wenige Zeilen schreiben bzw. einen Brief von ihr erhalten durfte, so unterlag diese Post strenger Zensur. Im Juli 1943 erhielt Martha Smula ein Schreiben der Lagerverwaltung Ravensbrück. Darin wurde ihr mitgeteilt, dass ihre Tochter am 8. Juli 1943 "ganz plötzlich" verstorben sei. 28 Jahre war Elli Smula damals alt. Starb sie an Hunger und Entkräftung? Oder an einer Krankheit, Folge der mangelhaften hygienischen Verhältnisse in den Blocks, die 1943 völlig überbelegt waren?

Oder trifft zu, was eine ehemalige Gefangene, Martha van Och-Soboll, 1956 aussagte? Och-Soboll kam 1941 als politische Gefangene nach Ravensbrück. Im folgenden Jahr war sie längere Zeit, bis Oktober 1942, im Krankenrevier. Dort, in der Tbc-Abteilung, habe sie beobachtet, wie mehrere Frauen, unter ihnen auch Elli Smula, von der Lagerärztin Dr. Herta Oberheuser mit einer Injektion getötet worden seien. Tatsächlich war Oberheuser an Menschenversuchen beteiligt, die unter Leitung des SS-Obergruppenführers und Professors Karl Gebhardt an etwa 75 polnischen Frauen durchgeführt wurden. Gebhardt leitete seit 1933 die Heilanstalten Hohenlychen, nur wenige Kilometer von Ravensbrück entfernt. Etwa im Juli 1943 verließ Oberheuser Ravensbrück und ging als Assistenzärztin nach Hohenlychen, inzwischen ein Kriegslazarett. Im Nürnberger Ärzteprozess gab sie 1947 unter anderem zu, dass sie im KZ Ravensbrück Häftlinge, die schwerkrank gewesen seien, mit Benzininjektionen getötet habe. Sie wurde zu 20 Jahren Haft verurteilt, jedoch bereits 1952 vorzeitig entlassen.

Gedenkfeier Elli Smula © Katja Koblitz
Claudia Schoppmann (in der Bildmitte rechts) und Monika Wissel (in der Bildmitte links)


Möglicherweise hat sich Martha van Och-Soboll bei der Zeitangabe geirrt. Wenn Elli Smula bereits im Jahr 1942 durch Herta Oberheuser ermordet worden wäre, hätte man Martha Smula den Tod ihrer Tochter wohl nicht erst Monate später, im Juli 1943 mitgeteilt. Fest steht, dass die junge Frau an den mörderischen Folgen der Einweisung ins KZ Ravensbrück starb, in Gang gesetzt durch die Anzeige der BVG bei der Gestapo.

Elli Smula und Margarete Rosenberg wurden unter dem Vorwurf festgenommen, durch ihr Verhalten den "Betrieb des Straßenbahnhofs Treptow stark gefährdet" zu haben. Auch wenn lesbische Handlungen nicht unter den §175 fielen, so verstießen sie doch zweifellos gegen das "gesunde Volksempfinden" – umso mehr in einem kriegswichtigen Betrieb wie der BVG, von dessen reibungslosem Funktionieren in der Reichshauptstadt viel abhing.

Dass die Folgen einer Denunziation tödlich sein konnten, zeigt stellvertretend für viele das Beispiel von Elli Smula. Vor 25 Jahren stieß ich zum ersten Mal auf ihren Namen, als ich in der Gedenkstätte Ravensbrück nach Spuren lesbischer Frauen suchte. Ich freue mich, dass jetzt mit diesem Stolperstein an ihr kurzes Leben erinnert wird – und an das Verbrechen, das an ihr und Margarete Rosenberg verübt wurde.
Ich übergebe jetzt das Wort an Monika Wissel, ehemalige Bezirksbürgermeisterin von Charlottenburg und aktiv in der Stolpersteininitiative Charlottenburg.





Rede von Monika Wissel, Bezirksbürgermeisterin von Charlottenburg a. D., zur Stolpersteinverlegung im Gedenken an Elli Smula in Berlin

Die Stolpersteine erinnern an die Berlinerinnen und Berliner, die in der Zeit des Nationalsozialismus politisch verfolgt, vertrieben, enteignet, deportiert und ermordet wurden. Sie werden vor deren letzten freiwillig gewählten Wohnsitz verlegt.

Der Künstler Gunter Demnig hat das Kunst- und Gedenkprojekt 1993 entwickelt und 1996 den ersten Stolperstein in der Oranienstraße in Berlin-Kreuzberg verlegt.

Mittlerweile liegen in 500 Orten in Deutschland und in weiteren 18 europäischen Ländern 53 000 Stolpersteine, davon über 6 200 in Berlin. Sie erinnern nicht nur an Jüdinnen und Juden, sondern auch an Roma und Sinti, Menschen aus dem politischen und religiösen Widerstand, Opfer der sogenannten "Euthanasie"-Programme, Homosexuelle, Zeugen Jehovas, Menschen, die als "asozial" stigmatisiert wurden und andere Verfolgte.

Inzwischen engagieren sich Initiativen in jedem Berliner Bezirk für dieses Gedenkprojekt. Sie sind Ansprechpartner für Angehörige im In- und Ausland von in der Zeit des Nationalsozialismus deportierten und ermordeten Opfern. Sie sind auch Ansprechpartner für zahlreiche Hausgemeinschaften, die die Geschichte ihrer Häuser und ihres Wohnumfeldes erforschen. Stolpersteine werden auch durch Jugendliche initiiert, entweder im Rahmen des Unterrichts oder durch außerschulische Gruppen. So haben Schülerinnen und Schüler der Cecilien-Grundschule in Wilmersdorf in den Unterlagen ihrer Schule recherchiert und dabei festgestellt, dass in der NS-Zeit fast die Hälfte der Schülerinnen und Schüler die Schule verlassen musste. Danach haben sie begonnen, nach den Schicksalen zu forschen und einzelne in die Öffentlichkeit zu bringen. Daneben beschäftigen sich auch viele Stolperstein-Patinnen und Paten mit der Geschichte der Opfer und halten nicht selten nach der Verlegung noch Kontakt mit deren Nachkommen.

Oder Angehörige von Opfern suchen nach Spuren in der Familiengeschichte im In- und Ausland und stoßen auf Familienangehörige, von deren Existenz sie bisher nichts wussten.

Mit der Verlegung der Stolpersteine wird nicht – wie anfangs befürchtet – ein Schlussstrich unter die Vergangenheit gesetzt. Im Gegenteil ist sie Anlass für eine lebendige und andauernde Auseinandersetzung vieler Menschen mit unserer Geschichte.

Stolperstein Elli Smula © Magda Albrecht 2015


Jeder Stolperstein ist ein von Hand einzeln hergestelltes Kunstwerk des Bildhauers Michael Friedrichs-Friedländer. Da das Gedenkprojekt und damit die Nachfrage sich ständig ausweitet, kommt er, der monatlich 400 Stolpersteine produziert, inzwischen an seine Kapazitätsgrenze. Auf die Frage, ob es nicht einfacher wäre, sie maschinell herzustellen, antwortet er: "Keinesfalls! So individuell die Schicksale waren, so individuell soll auch die Gestaltung der Erinnerung an sie sein. Ich schlage jeden Buchstaben, jede Zahl einzeln mit den Schlagstempeln in die Messingbleche. Die Schicksale und die Ereignisse, die dahinter stehen, lassen mich kaum noch los."

Jeder Stolperstein ist somit ein Einzelstück – ein kleines Denkmal für Menschen, die keine Gräber haben. Die Nationalsozialisten haben ihre Existenzen vernichtet und wollten ihre Namen auslöschen. Hier werden die Namen der Ermordeten an die Orte zurückgeholt, wo sie zuletzt freiwillig gelebt haben.

Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.